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Früher wurden tuberkulöse und tuberkuloseverdächtige Schüler zum Lernen vor die Tür gesetzt.
© Imago/United Archives International

Unterricht in Corona-Zeiten: Schüler könnten draußen lernen – auch im Winter

Steigt drinnen die Infektionsgefahr wie nun in der Corona-Pandemie, könnten Schüler schlicht im Freien lernen. Erfahrungen zeigen, dass das auch bei Kälte geht.

Es ist Ende September 1904. In Charlottenburg sitzt seit fast zwei Monaten eine Klasse jeden Tag im Freien und bekommt ganz normalen Unterricht erteilt. Die Kinder, teilweise abgemagert, allesamt als „empfindlich und gefährdet“ und möglicherweise bereits mit Tuberkulose infiziert eingestuft, bleiben auch den nicht eben milden Winter über draußen. Ziel ist es primär, sie von gesunden Kindern fern zuhalten, damit diese sich nicht infizieren.

Aber statt krank zu werden, geht es den meisten bald deutlich besser. Die Nachricht von der Freiluftschule geht um die Welt. Und aus aller Welt reisen Tuberkulose-Experten und Bildungsfunktionäre an.

Der Druck durch die Krankheit, die jährlich und verlässlich deutlich mehr Leben kostet als derzeit Covid-19, ist groß, die Optionen sind vor allem für jene, die sich kein teures Sanatorium leisten können, begrenzt. Innerhalb weniger Jahre eröffnen hunderte Schulen weltweit, die in offenen Pavillons, unter Zeltplanen auf dem Schulhof oder in hohen Räumen mit dauernd offenen Fenstern lehren. Die erste Freiluftschule der USA etwa wird 1908 in Providence eröffnet. Der Erfolg ist jenseits aller Erwartungen.

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Die ebenfalls als tuberkulosegefährdet oder möglicherweise bereits erkrankt eingestuften Kinder, oft Waisen oder Halbweisen von der Krankheit erlegenen Eltern, zeigen nicht nur keine Zeichen der gefährlichen bakteriellen Erkrankung. An Schulbänken sitzend eingemummelt, in so genannten „Eskimo-Säcken“ steckend und mit heißen Specksteinen an den Füßen gewärmt erholen sich die meisten Kinder sogar. Wenn die historischen Aufzeichnungen stimmen, bekommt im ersten Winter kein einziges auch nur eine ernsthafte Erkältung.

Pionierarbeit von Pionier-Frauen

Vorangetrieben wird die Bewegung teilweise von Frauen, die auch auf anderen Gebieten Pioniere sind. Die Initiative in Providence kommt unter anderem von Mary Packard. Sie war 1897 die erste Frau überhaupt gewesen, die an der Johns Hopkins Medical School ihren Abschluss machte – jener Universität, die in den letzten Monaten durch ihre Aufbereitung der globalen Daten zu Sars-CoV-2 und Covid-19 omnipräsent wurde.

116 Jahre später spielt jenes Virus eine ähnliche Rolle wie das von Robert Koch identifizierte Tuberkel-Bazillus seinerzeit: Es gibt keine Impfung und keine sichere Therapie, Personen können infektiös sein, ohne dass sie Zeichen dafür zeigen. Die Krankheit kann problemlos ausheilen, aber auch tödlich verlaufen oder schwere Langzeitfolgen haben. Und der wichtigste und am schlechtesten zu beeinflussende Übertragungsweg läuft über die Atemluft. Die letzten Schulen, die wegen Tuberkulose draußen unterrichteten, haben seit über 60 Jahren geschlossen, oder zumindest die Fenster zugemacht, weil man mit Antibiotika die Tuberkulose in den Griff bekommen hatte.

Hintergrund-Informationen zum Coronavirus:

Draußen in der Schorfheide

Allerdings ist der Idee von der Schule im Freien nicht ganz die Puste ausgegangen.

September 2020, Grundschule Lichterfelde in der Schorfheide: Zumindest an einem Tag pro Woche gehen dort die Kinder der unteren Klassen bei praktisch jedem Wetter nach draußen. „Fest im Stundenplan sind zwei Stunden mit einem Umweltpädagogen“, sagt Schulleiter Hans-Dieser Weiß, „aber wir gehen auch in Deutsch und Mathe raus“. Multiplikation etwa lernen Kinder seiner Erfahrung nach besonders gut, wenn sie Kühe zählen und herausfinden müssen, wie viele Kuh-Beine dann auf der Weide stehen. Auch bei höheren Jahrgängen sei derlei möglich, so Weiß. Die Lichterfelder waren von 2014 bis 2016 Teil einer Studie der Universität Mainz zu den Möglichkeiten der so genannten „Draußenschule“.

Skeptische Eltern, überzeugte Eltern

Dieses aus Skandinavien stammende Konzept des sachorientierten Lernens an, in und von der Natur unterscheidet sich zwar grundsätzlich von dem der Freiluftschulen aus dem frühen 20. Jahrhundert, wo meist schlicht die Schulbänke samt Schüler an die Luft kamen. Die Erfahrungen, was die gesundheitlichen Auswirkungen angeht, sind aber ebenso gut.

Walddorfschule im Örtchen Niederahr im Westerwaldkreis (Archivbild von 2017)
Walddorfschule im Örtchen Niederahr im Westerwaldkreis (Archivbild von 2017)
© dpa/Thomas Frey

Und selbst anfangs hochgradig skeptische Eltern, die fürchteten, ihre Kinder würden in der Kälte krank werden, hätten im Laufe einer Serie von Befragungen praktisch durchweg ihre Sicht revidiert, so Weiß. Viele hätten von im Vergleich zu vorher deutlich ausgeglicheneren und zufriedeneren Kindern berichtet. Jene Studie, und auch einige andere, vor allem aus Skandinavien, kommen zu ähnlichen Ergebnissen, inklusive oft verbesserter Motivation, Lern-Spaß und Lernleistung.

Sieht Weiß in der „Draußenschule“ eine Strategie in Corona-Zeiten, auch für höhere Stufen? Man könne, wenn die Lehrpläne so blieben wie derzeit, nicht alle Inhalte so vermitteln. „Aber vieles ist auch bei den Größeren möglich“. Wie viel, hänge vor allem von der Kreativität und Bereitschaft der Lehrkräfte ab – und der Unterstützung der Eltern.

Massiv geringeres Ansteckungsrisiko

Dass die Corona-Infektionsgefahr massiv sinkt, wenn sich Menschengruppen nicht in geschlossenen Räumen aufhalten, kann mittlerweile als nachgewiesen gelten. Studien kommen zu einer mindestens um das 20-Fache verringerten Wahrscheinlichkeit. Eine Auswertung aus China, in die 7000 Infektionsfälle eingingen, fand nur eine einzige sicher im Freien erworbene Infektion (Veranstaltungen draußen, bei denen Menschen eng bei einander sind, oder auch Demonstrationen, könnten hier aber Ausnahmen sein).

Möglichst viel Schule nach draußen zu verlagern, auch in der kalten Jahreszeit, wird mittlerweile auch nicht mehr durchweg als unmöglich abgetan. Für New York City, den größten Schuldistrikt der USA, hat Bürgermeister de Blasio alle Schulleiter aufgerufen, Konzepte zu erarbeiten, mit denen „so viel Unterricht wie möglich draußen stattfinden“ soll. Und weil die angekündigten Schulöffnungen für alle Ende September, wegen der aktuellen Lage nicht möglich waren und nur ein Bruchteil der Schüler derzeit in seinen Klassen sitzt, könnte der Ansatz noch wichtiger werden - wenn sich die Infektionslage weiter so entwickelt wie derzeit auch hierzulande.

Ein Mix aus Klassenteilung, Homeschooling und Draußenschule

Zunehmend sehen nicht nur Experten für Infektionskrankheiten, sondern auch Bildungsfachleute Unterricht im Freien zumindest als Teil einer komplexen Strategie, so viel Bildung wie möglich so sicher wie möglich vermitteln zu können. "Es wird einen Mix geben müssen, falls die Inzidenz weiter steigen wird: geteilte Klassen, Abwechslung von drinnen und draußen – und Homeschooling.“, sagt Christoph Mall, der an der Technischen Universität München zum Thema „Draußenschule“ forscht .

Mall hat, zusammen mit Münchener Kollegen, solchen von der pädagogischen Hochschule Heidelberg - und dem bayerischen Landesverband der Schutzgemeinschaft deutscher Wald - eine Handreichung zum Unterricht draußen erstellt.

[Abonnenten von T+ können das ganze Interview mit dem Didaktikforscher Christoph Mall hier lesen: „Was man drinnen lernen kann, kann man oft auch draußen lernen“]

„Im Freien“ könne zudem auch bedeuten: im Klassenraum mit auch im November immer oder sehr regelmäßig weit offenen Fenstern, warm angezogen, und mit Gymnastik-Aufwärmpausen.

Dafür müssten Behörden und Eltern auf breiter Front akzeptieren, dass Kälte bei geeigneter Garderobe nicht Erkältung bedeuten muss. Und, sagt Mall: „Lieber ein Schnupfen, als dass das Kind die Oma mit Sars-CoV-2 ansteckt!“

Lehrkräfte müssten sich nicht nur darauf einlassen und selber die dicken Sachen aus dem Schrank holen.

Sondern sie bräuchten auf ebenso breiter Front Rückendeckung. Die Vorsitzende des deutschen Philologenverbandes, Susanne Lin-Klitzing, lehnte am Freitag ein regelmäßiges „für den Unterricht nach draußen“ gehen als absurde Idee ab. Doch dass genau das – im Gegensatz zu den jetzt diskutierten Mix-Konzepten sogar in Vollzeit – funktionieren kann, haben die Freiluftschulen, die vor über einem Jahrhundert boomten, zumindest schon einmal gezeigt.

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