Hartnäckige Infektionskrankheit: Die Tuberkulose war nie weg
In Baden-Württemberg haben sich mehr als hundert Schüler mit der Seuche angesteckt. Wie viele bundesweit infiziert sind, kann niemand sagen.
In Deutschland kennen viele die Tuberkulose (TB) nur noch aus Historienfilmen oder Büchern wie dem "Zauberberg" von Thomas Mann. Als es noch keine wirksamen Medikamente gab, war die Krankheit als "Schwindsucht", "Weiße Pest" oder "die Motten" berüchtigt. Denn meist starben die Menschen an der Seuche. Mit den Antibiotika verschwand die Tuberkulose dann weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung. Bis vergangene Woche.
Da kam aus Bad Schönborn in Baden-Württemberg die Meldung, dass dort vier Schüler an Tuberkulose erkrankt seien. Wie in einem solchen Fall gesetzlich vorgeschrieben, waren die Fälle dem zuständigen Gesundheitsamt gemeldet worden, das sogenannte Umgebungsuntersuchungen bei den Kontaktpersonen durchführte. Demnach seien insgesamt an der hauptsächlich betroffenen Gesamtschule 109 Schüler und Lehrer mit Tuberkulose infiziert, wie das Landratsamt Karlsruhe am Dienstag erneut bestätigte. Weitere Infektionen gebe es nicht.
Die erkrankten und somit ansteckenden Schüler seien nach der Diagnose isoliert worden und befänden sich in Behandlung, teilte ein Sprecher dem Tagesspiegel mit. Erst wenn keine Ansteckungsgefahr mehr bestehe, würden sie wieder zum Schulbesuch zugelassen. Derzeit sind in Baden-Württemberg Sommerferien.
Räumlich enger Kontakt als Übertragungsrisiko
"Die Zahl von mehr als 100 Infizierten ist für eine Umgebungsuntersuchung in der Schule hoch, auch wenn es keine systematischen Daten aus Schuluntersuchungen der Gesundheitsämter in Deutschland gibt", sagt Brit Häcker, ärztliche Mitarbeiterin beim Deutschen Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose (DZK). Bei häufigem und räumlich engem Kontakt – wie beispielsweise in Schulen – könne es zu einer Übertragung der Tuberkulose kommen.
Offenbar, so teilt das Landratsamt Karlsruhe mit, war der zuerst betroffene Schüler an einer Gesamtschule in Bad Schönborn hochansteckend. Dazu passt, dass in dessen Jahrgangsstufe fast 90 Prozent der Mitschüler infiziert sind, in den anderen Klassenstufen durchschnittlich nur 18 Prozent.
Niemand weiß, wie viele bundesweit infiziert sind
Zwar ist ein solcher Ausbruch für Deutschland ungewöhnlich. Doch es ist bekannt, dass die Tuberkulose auch hierzulande vorkommt. 2017 gab es laut Robert Koch-Institut fast 5500 Erkrankungsfälle (Bericht zur Epidemiologie der Tuberkulose in Deutschland für 2017 (PDF)).
Wie viele aber lediglich infiziert sind, ist unbekannt, denn sie fallen nicht auf: Das Immunsystem hält die Erreger – hierzulande meist Mycobacterium tuberculosis – in Schach, indem Fresszellen sie einkapseln. Die typischen Symptome – etwa leichtes Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust und bei Lungentuberkulose vor allem Husten – treten bei ihnen deshalb nicht auf. Außer wenn die Ansteckung zur Krankheit wird: Etwa fünf bis 15 Prozent der Infizierten erkranken im Laufe ihres Lebens an Tuberkulose.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass etwa ein Viertel der Weltbevölkerung mit Tuberkulose infiziert ist. Das sind allerdings nur Schätzungen. Und so wisse auch niemand genau, wie viele Menschen in Deutschland die Erreger in sich tragen, sagt Häcker. Sogar wenn man die ganze Bevölkerung testen wurde: "Selbst bei einem positiven Testergebnis ist das Problem, dass man nicht weiß, wer erkranken wird", sagt Häcker.
Eine Schwellung spricht für eine Infektion
Außerdem sind die Tests nicht immer leicht zu interpretieren. Um eine Infektion festzustellen, kann man entweder einen Hauttest machen, bei dem man Bestandteile der Mykobakterien in die Haut des Unterarms spritzt. Zeigt sich nach 48 bis 72 Stunden eine verhärtete Schwellung, spricht das für eine Infektion. Dieser Tuberkulintest kann jedoch nicht zwischen einer lange zurückliegenden und einer aktuellen Infektion unterscheiden, außerdem springt er in manchen Fällen etwa fälschlich auf andere Bakterien an und ist erst etwa acht Wochen nach der Ansteckung aussagekräftig. Etwas empfindlicher ist der Bluttest, dessen Ergebnisse zudem nicht durch eine Tuberkulose-Impfung verfälscht werden. Er ist allerdings deutlich teurer.
Fällt der Test positiv aus, wird der Brustkorb geröntgt und in abgehustetem Schleim nach dem Erreger gesucht, um festzustellen, ob die Person krank ist. Dann wird über zwei Monate erst mit einer Kombination aus vier und dann noch einmal vier Monate mit zwei verschiedenen Medikamenten behandelt. Infizierten hingegen werde eine Chemoprävention angeboten, sagt Häcker. Das sind zwei Arzneimittel, die das Risiko eines Ausbruchs der Krankheit senken sollen.
"Es reicht nicht, neben jemandem in der U-Bahn zu sitzen"
"Tuberkulose ist in Deutschland eine gut diagnostizierbare und behandelbare Erkrankung", sagt Häcker. Bei den etwa hundert Menschen, die hierzulande jährlich an der Infektion sterben, handele es sich vielfach um ältere Menschen, deren Infektion auf die Kriegs- und Nachkriegszeit zurückgehe und für die aufgrund von Begleiterkrankungen die Behandlungsmöglichkeiten deutlich schlechter seien.
Tuberkulose-Ausbrüche wie den in Baden-Württemberg werde man aber auch in Zukunft nicht völlig verhindern können. Denn es gebe eben immer wieder Fälle, wo sich Erkrankte mit leichten Symptomen noch ohne Diagnose in der Öffentlichkeit bewegten. Panik sei allerdings nicht angebracht. "Um sich anzustecken, reicht es nicht, neben jemandem in der U-Bahn zu sitzen." Und die Methode der Umgebungsuntersuchung zur Eindämmung der Infektion habe sich bewährt.
15.000 Tabletten in zwei Jahren schlucken
Global gesehen, ist die Tuberkulose allerdings ein viel größeres Problem. Weltweit gibt es keine Infektionskrankheit, die tödlicher ist. Im Jahr 2018 erkrankten nach Angaben der WHO etwa 10 Millionen Menschen daran, 1,6 Millionen starben – 95 Prozent davon in Entwicklungsländern. Besonders gefährdet sind Personen, die gleichzeitig mit HIV infiziert sind, denn das Virus schwächt das Immunsystem und macht es anfälliger für die TB-Erreger
Ziel der WHO ist es, bis 2035 die Zahl der Todesfälle durch Tuberkulose um 95 und die Anzahl der neu aufgetretenen Infektionen um 90 Prozent zu verringern. "Das wird nur mit besseren Impfstoffen, Medikamenten und Diagnostika gelingen", sagt Stefan Kaufmann, Direktor Emeritus am Berliner Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie.
Das liegt auch daran, dass die TB-Erreger immer häufiger resistent gegen die verwendeten Medikamente sind. Sprechen sie nicht mehr auf die wichtigsten Arzneimittel Rifampicin und Isoniazid an, handelt es sich um eine "Multi-Drug-Resistant Tuberculosis" (MDR-TB). Die WHO schätzt, dass weltweit jährlich eine halbe Million Menschen an einer solchen multiresistenten Form der TB erkranken. "In dem Fall ist die Behandlung besonders schwierig und langwierig", sagt Kaufmann. Ein Mitarbeiter von "Ärzte ohne Grenzen" habe ihm einmal vorgerechnet, dass die Patienten über zwei Jahre fast 15.000 Tabletten schlucken müssten – oft mit entsprechenden Nebenwirkungen.
Ein Impfstoff in zehn Jahren?
Ein wichtiger Schritt wäre deshalb, eine wirksame Impfung gegen die Tuberkulose zu entwickeln. Der weltweit am meisten verwendete Impfstoff ist nach wie vor die fast 100 Jahre alte "BCG"-Vakzine (Bacillus Calmette-Guérin). In Ländern mit hohen TB-Zahlen sei das durchaus sinnvoll, sagt Kaufmann, auch weil Tuberkulose gerade im Kindesalter häufig außerhalb der Lunge auftreten könne. Das Problem mit BCG ist nur: Gegen Lungentuberkulose wirkt die Impfung kaum, zudem hat sie Nebenwirkungen. Deshalb empfiehlt die Ständige Impfkommission sie in Deutschland seit 1998 nicht mehr.
Kaufmann hat mit seinem Team einen neuen TB-Impfstoff entwickelt. Es ist ein Lebendimpfstoff, der auf BCG basiert, aber besser wirken soll. Sicherheitsstudien bei Erwachsenen und Neugeborenen in Südafrika seien bereits erfolgreich abgeschlossen. In Indien laufe gerade eine Phase-III-Studie, die prüfen soll, ob der Impfstoff verhindern kann, dass Tuberkulose nach einer Therapie wieder auftritt. Und in Subsahara-Afrika teste man, wie die Vakzine bei Neugeborenen HIV-infizierter Mütter wirkt.
Bei der Produktion arbeite man mit dem Serum Institute of India zusammen, das weltweit die meisten Impfstoffdosen herstellt. "Meine Hoffnung ist, dass der Preis für eine Impfdosis unter einem Dollar liegen wird", sagt Kaufmann. Damit wäre der Impfstoff auch in Entwicklungsländern bezahlbar. Es handele sich um eine einmalige Impfung, die innerhalb der ersten sechs Wochen nach Geburt verabreicht werden könne.
Wie lange der Schutz dann anhalte, auch das müsse noch erforscht werden. Kaufmann sagt, wenn alles gut gehe, könnte der Impfstoff in etwa zehn Jahren auf den Markt kommen. Zwar drängt angesichts des ambitionierten WHO-Ziels die Zeit, aber Kaufmann möchte keine halben Sachen machen: "Die WHO verlangt, dass ein neuer Tuberkulose-Impfstoff entweder sicherer oder schützender ist als der alte BCG", sagt der Immunologe. "Wir wollen beides."