Rassismus im Bildungssystem: Schule unter Pauschalverdacht
Neoliberale Politik befördert rassistische Strukturen in der Schule, heißt es in einer aktuellen Studie. Unsere Gastautorin widerspricht.
Die Kulturwissenschaftlerin und Bildungsforscherin Ellen Kollender erklärt in Ihrer Studie „Eltern-Schule-Migrationsgesellschaft“ – über die der Tagesspiegel kürzlich berichtet hat –, das vermeintlich „neoliberale Schulsystem“ in Deutschland sei von strukturellem Rassismus geprägt.
Ihre zentrale These bezieht sich auf die Auswirkungen der Berliner Bildungspolitik zu Beginn der Jahrtausendwende. In der schulgesetzlichen Verankerung einer größeren Autonomie für die einzelnen Schulen sieht sie einen neoliberalen Schwenk, der Lehrkräfte dazu gebracht hätte, den Eltern die Verantwortung für die Lernerfolge ihrer Kinder zuzuschieben.
Die Sicht auf die Kreuzberger und Neuköllner Eltern mit Migrationshintergrund sei von Rassismus geprägt, der durch die Schulpolitik so noch befördert worden sei. Mithin spricht sie von „neoliberalem Rassismus“. Doch Kollender irrt in mehreren Punkten.
[Lesen Sie hier unsere Besprechung der Studie "Eltern, Schule, Migrationsgesellschaft. Neuformation von rassistischen Ein- und Ausschlüssen in Zeiten neoliberaler Staatlichkeit"]
Reaktionen auf die PISA-Studie
Die Bemühungen in den 1990er und 2000er Jahren, mehr Eigenverantwortung an Schulen abzugeben, waren – wie auch die Einführung flacher Hierarchien in Unternehmen – zum einen damit begründet, dass die Beteiligten vor Ort sehr viel bessere Kenntnisse darüber hätten, wie Aufgaben gelöst werden können und darüber, was die Bedürfnisse vor Ort sind, zumal Lehrkräfte gut ausgebildet seien.
Zum anderen war diese Politik auch eine Reaktion auf die Ergebnisse der Schulleistungsstudien PISA und TIMSS, die Schülerinnen und Schülern in Deutschland nur mittelmäßige Leistungen bescheinigt hatten. Deshalb sollten die einzelnen Schulen mehr Verantwortung für die Lernerfolge ihrer Schülerinnen und Schüler erhalten.
Dies vor allem deshalb, weil Lehrkräfte die Schulleistungen bis dato gerne auf andere Faktoren – nämlich mangelnde Begabungen der Kinder, zu geringe elterliche Unterstützung und unzureichende Ausstattung durch den Senat – geschoben hatten.
Die Bild vom "falschen Schüler" ist uralt
Die Vorstellung, die falschen Schüler vor sich zu haben, gründet bei Lehrkräften und Schulen auf einer jahrhundertealten Tradition und ist mitnichten das Resultat der oben genannten Reformen. Allerdings, das muss ebenfalls gesagt werden, ist die Intention der Reform bislang noch nicht wirklich erreicht worden.
Die Autorin setzt eine Orientierung an Leistungs- und Wettbewerbsprinzipien, am Leitbild des autonomen beziehungsweise selbstverantwortlichen Subjekts sowie meritokratische Leistungserwartungen mit unternehmerischem Zwang zur Selbstoptimierung gleich und bezeichnet diese als „neoliberal“. Eine Überbetonung von Leistung dürfte aber schwerlich in den bildungspolitischen Vorgaben dieser Stadt zu finden sein.
Völlig unterbelichtet bleibt die Tatsache, dass die größte Ungerechtigkeit darin besteht, Kinder und Jugendliche ohne ausreichende Kompetenzen aus den Schulen zu entlassen. Dazu gehört einerseits eine fördernde Schule mit gutem Unterricht, andererseits der individuelle Lernwille. Lernen ist die höchst individuelle Aneignung von Welt – und dies nunmehr seit der Aufklärung. Lernen ist kein kollektiver Prozess, auch wenn er sich in Gruppen vollzieht.
Lehrkräfte schreiben schlechte Leistungen von Schülern häufig den unterschiedlichen kulturellen Orientierungen der Eltern zu, erklärt die Autorin und erkennt darin eine Variante von Rassismus. In der Tat ist es ein Problem, dass Kindern sozial schwacher Schichten – aber keineswegs nur migrantischer Milieus –, weniger Leistungsfähigkeit zugeschrieben wird. Die in Berlin häufiger anzutreffende Reaktion ist indes, dass die Anforderungen in der gut gemeinten Annahme, so Auslese zu verhindern, heruntergeschraubt werden.
Protektionistische Unterforderung
Diese „protektionistische Unterforderung“ der Schülerinnen und Schüler kann auch eine Ursache für schlechte Schülerleistungen sein.
Die Autorin gibt der „neoliberalen Politik“ sodann die Schuld für ein Erstarken rassistischer Positionen bei Lehrkräften. Dabei sieht sie jede Form der „Fremdmachung“ als „rassistisch“ an. Wenn jede Benennung von Unterschieden aber als Ausdruck von Rassismus beschrieben wird, ist niemandem geholfen.
[Ellen Kollender: Eltern – Schule – Migrationsgesellschaft. Neuformation von rassistischen Ein- und Ausschlüssen in Zeiten neoliberaler Staatlichkeit. Transcript Verlag, Bielefeld 2020, 378 Seiten, 29 €.]
Natürlich haben Vorurteile und Diskriminierungen oft gravierende Auswirkungen auf die Lernfähigkeit der Kinder und Jugendlichen. Die Akzeptanz von Heterogenität in der Zusammensetzung der Schülerschaft – eine zentrale Voraussetzung auch für eine inklusive Schulentwicklung – , die in Berlin stark betont wird, setzt aber auch die Anerkennung von Unterschieden voraus, um die individuellen Förderbedarfe erkennen und ihnen gerecht werden zu können.
Es ist schade, dass richtige Beobachtungen der Studie in der pauschalen und generalisierenden Zuordnung zu „neoliberalem Rassismus“ untergehen. Nicht zuletzt ist das von der Autorin geforderte Diskriminierungsverbot im Berliner Schulgesetz bereits in zwei Paragrafen umgesetzt.
Der paternalistische Staat ist keine Alternative
Was aber sollen denn die Alternativen zur vermeintlich neoliberalen Politik sein? Soll es der paternalistische Staat sein, der den großen und kleinen Bürger*innen die Selbstbestimmungs- und Teilhaberechte wieder nimmt und den Schulen die gewonnene Eigenverantwortung?
Wodurch soll das Leistungsprinzip ersetzt werden? Womöglich ist das Wunschziel der Autorin der alte Gleichheitsgrundsatz: Was nicht alle lernen können, darf keiner lernen. Sollte das Schulsystem an dieser Maxime ausgerichtet werden, wäre es allerdings um die Zukunftschancen der Kinder und Jugendlichen in Berlin noch schlechter bestellt als heute.
Sybille Volkholz
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