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Bunte Klasse. Bislang bilden Schulbücher die gesellschaftliche Vielfalt nicht als Normalität ab.
© Kai-Uwe Heinrich

Vorurteile gegen Migranten: Schulbücher grenzen aus

Die meisten deutschen Schulbücher stellen Migranten als Problemfälle dar. Oft überwiege die Haltung „wir Deutsche“ gegen „die anderen“, heißt es in einer neuen Studie. Experten fordern jetzt mehr Vielfalt.

Jedes dritte Kind in Deutschland kommt mittlerweile aus einer Einwandererfamilie. Doch die meisten Schulbücher tun immer noch so, als sei die homogene, weiße, bürgerliche Gesellschaft die Normalität und Einwanderung etwas Defizitäres und Problematisches. Das ist das Ergebnis einer Schulbuchstudie, die Aydan Özoğuz, die Integrationsministerin der Bundesregierung, am Dienstag in Berlin vorgestellt hat.

„Die Vielfalt unseres Landes wird in den Büchern leider nicht als Normalität beschrieben“, sagte Özoğuz. Auch seien die Schulen weit entfernt davon, jedes einzelne Kind mit seinen Erfahrungen und Bedürfnissen ernst zu nehmen. Dabei sei bekannt, was getan werden müsse, sagte die Staatsministerin im Hinblick auf die Berliner Rütli-Schule, die sich von der Skandal- zur Vorzeigeschule gewandelt hat. Wenn Schulen mehr Unterstützung bräuchten, müsse sie ihnen auch gewährt werden.

Es gibt "Flüchtlingsströme" und "Ausreisewellen"

Das Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung und das Zentrum für Bildungsintegration an der Universität Hildesheim haben für die Studie 65 Schulbücher untersucht, die aktuell in Sozialkunde, Geschichte und Geografie in den 9. und 10. Klassen eingesetzt werden. Sie haben überprüft, wie die Themen Migration und Integration behandelt und wie Migranten dargestellt werden.

Das Ergebnis: In allen Büchern wird Deutschland als Einwanderungsland beschrieben. Migration wird aber meistens als Problem gesehen. So illustrieren Geschichtsbücher das Thema gerne mit übervollen Flüchtlingsbooten. Flüchtlinge werden oft mit „Illegalen“ gleichgesetzt, und es überwiegen „Wassermetaphern“. Es gibt „Flüchtlingsströme“ und „Ausreisewellen“ und bisweilen immer noch die „Asylantenschwemme“.

Es überwiege die Haltung „wir Deutsche“ gegen „die anderen“. Wobei Deutsche als Personen ohne Migrationsgeschichte definiert würden. In einem brandenburgischen Schulbuch lautet der Titel des Kapitels zu Integration „Lebenssituation anderer“.

Oft wird scheiternde Integration dargestellt

Fälle von scheiternder Integration würden viel häufiger dargestellt als gelingende Beispiele, sagt Studienleiterin Inga Niehaus. Migranten würden in der Regel als passiv Betroffene und als Opfer gezeichnet. Der IT-Experte aus Indien, die Ärztin aus Russland und der Student aus Südkorea tauchen kaum als Migranten in Schulbüchern auf. „Die Frage, wer als Migrant gilt, ist demnach nicht allein davon abhängig, ob eine Person eingewandert ist, sondern vor allem davon, welche gesellschaftliche Position sie innehat“, folgern die Schulbuchforscher.

Beliebt seien auch die Themen „Ausländerkriminalität“ und „Ehrenmorde“, wenn es um Integration geht. Oft würden in ein und demselben Buch die Begriffe „Ausländer“, „Fremde“ und „Personen mit Migrationshintergrund“ synonym verwendet.

Von Einwanderern wird erwartet, dass sie sich anpassen

Viele Schulbücher erwarten von den Einwanderern, dass sie sich anpassen. Dass sich auch die Mehrheitsgesellschaft ändern muss, damit das Zusammenleben gelingt, wird nicht thematisiert.

Die abwertende Haltung gegenüber Migranten zeige sich oft in den Aufgabenstellungen: Da werden Schüler in einem bayerischen Sozialkundebuch aufgefordert, „unser Wissen über sie, die Ausländer“, darzulegen. Ein Geschichtsbuch regt an, „fremde Kulturen am Schulort“ zu untersuchen. Ein anderes Geschichtsbuch stellt den "deutschen" Schülern die Aufgabe, ihre „ausländischen" Klassenkameraden nach ihren Erfahrungen mit der Integration zu befragen.

Man könnte Migranten auch ganz anders sehen: Als Menschen, die bewiesen haben, dass sie mobil und flexibel sind. Als Personen also, die über Fähigkeiten verfügen, die in der modernen Gesellschaft gefragt sind. Diese Perspektive sollte in den Schulbüchern deutlicher zum Tragen kommen, fordern die Schulbuchforscher. Überhaupt sollte die Vielfalt des Einwanderungslandes Deutschland als Normalität abgebildet werden. Die Vielfältigkeit der Gesellschaft müsse auch in den Rahmenlehrplänen und in der Lehrerausbildung einen größeren Raum einnehmen und verpflichtend sein.

Schon vor 20 Jahre drängte die KMK auf eine andere Darstellung

Man nehme die Studie ernst, sei aber auch schon auf einem guten Weg, rechtfertigten sich Vertreter der drei großen Schulbuchverlage Klett, Cornelsen und Wissmann am Dienstag. „Schulbücher sind ein Spiegel ihrer Zeit“, sagte Anja Hagen vom Cornelsen-Verlag. Gesellschaftliche Positionen müssten gefestigt sein, um sie für ein Schulbuch komprimieren zu können. Das sei schwierig beim Thema Einwanderung, wo noch so viel im Fluss sei. Die Kultusministerkonferenz hat allerdings bereits vor 20 Jahren auf eine größere Sensibilität für die Vielfältigkeit der Gesellschaft hingewiesen und auf andere Darstellungsweisen gedrängt, wenn es um Migranten geht – ohne großen Erfolg, wie sich jetzt zeigt.

„Es ist nicht einfach, ein Buch zu schreiben, das die Realität in Marzahn genauso abbildet wie die in Kreuzberg“, gab Ludger Pieper zu bedenken, der Vorsitzende im Schulausschuss der Kultusministerkonferenz. Es gehe auch nicht um eine weichgespülte, politisch korrekte Sicht auf die Dinge. Konflikte und Kontroversen müssten selbstverständlich in den Schulbüchern vorkommen. Entscheidend sei, wie Konflikte behandelt, in welchen Kontext sie eingebettet und mit welchen Fragestellungen sie an die Schüler herangetragen werden, sagte Pieper.

Kaum wird der "Otobüs" erwähnt, hagelt es Protestbriefe

Kürzlich legte der Klett-Verlag ein neues Buch zum Buchstabenüben für die erste Klasse vor. Als Beispiel für die Verwendung des „ü“ nennt das Buch auch das türkische Wort „Otobüs“. Jetzt hagle es Protestbriefe, sagte der Verlagsvertreter. Eltern beschwerten sich, dass der Verlag die „Islamisierung“ nicht schon in Schulbüchern vorantreiben solle. Muss sich zuerst die Gesellschaft wandeln oder die Bücher? Für Staatsministerin Özoğuz, die Schulbuchforscher und die KMK liegt die Antwort auf der Hand: Die Bücher müssen die Maßstäbe setzen.

Claudia Keller

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