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Vergeudet. Manche Wirkstoffe helfen nur wenigen Patienten. Bei herkömmlichen Tests bleibt ihr Potenzial häufig unerkannt.
© picture alliance / dpa

Angepasste Zulassung: „Schneller zu neuen Medikamenten“

Wer Patienten helfen will, muss sich manchmal auf eine Gratwanderung begeben - zwischen kritischer Prüfung eines Medikaments und einer schnelleren Verfügbarkeit. Ein Gespräch mit dem Arzneimittelkontrolleur Karl Broich.

Bis ein Wirkstoff aus der Tierversuchsphase am Menschen getestet ist und als Medikament zugelassen werden kann, vergehen oft mehr als zehn Jahre. Und nur etwa sieben Prozent schaffen es. Die europäische Arzneimittelbehörde EMA will das Vorgehen nun für bestimmte Arzneimittelkandidaten anpassen („Adaptive Pathway“). Dabei soll ein Medikament in einer kleinen Patientengruppe getestet und für diese zugelassen werden, bevor mehr Tests einen Einsatz bei großen Gruppen erlauben. So sollen Patienten schneller dringend benötigte neue Medikamente bekommen, hofft Karl Broich. Der Facharzt für Nervenheilkunde und Psychotherapie wechselte 2000 von der Universität Halle-Wittenberg an die deutsche Arzneimittelbehörde BfArM, die er seit 2014 führt. Eine Gratwanderung: Einerseits muss die Behörde Wirkstoffe kritisch prüfen, um gefährliche Nebenwirkungen zu verhindern. Andererseits will Broich nicht unnötig kritisch sein und den Zulassungsprozess verzögern und verteuern – auf Kosten von Patienten, die neue Arzneien brauchen.

In Frankreich ist ein Mensch bei offenbar schlampigen Medikamententests gestorben. Gleichzeitig wollen die europäischen Zulassungsbehörden es Pharmafirmen mit „angepasster Lizensierung“ leichter machen, neuartige Therapien auf den Markt zu bringen. Wie passt das zusammen?
Was in Frankreich passiert ist, fand während der ersten Anwendung eines Medikaments beim Menschen statt. Wir beobachten sehr genau, was in Frankreich zu diesen Vorfällen geführt hat. Offensichtlich wurde die Behandlung fortgesetzt, obwohl ein Proband bereits Krankheitssymptome gezeigt hatte. Mit dem neuen Zulassungsverfahren, dem Adaptive Pathway, setzen wir jedoch erst lange nach einer solchen frühen Testphase an. Unser Ziel ist es, neue Arzneimittel für den Patienten schneller verfügbar zu machen. Dafür fordern wir auch in Zukunft eine zweite und dritte Studienphase, um Erkenntnisse über Sicherheit und Wirksamkeit zu gewährleisten.

Besteht überhaupt Bedarf, am Testverfahren für Arzneimittel etwas zu ändern?

In der zweiten und vor allem in der dritten Testphase eines Medikaments wird es in der Regel hunderten oder tausenden Patienten verabreicht. Viele Wirkstoffe bewähren sich dabei nicht, weil sie nicht allen Patienten helfen. Wir haben jedoch die Erfahrung gemacht, dass manche dieser Medikamente bestimmten Patienten trotzdem nützen, obwohl sie nicht für die breite Anwendung geeignet sind. Wenn diese Patienten identifiziert werden können, zum Beispiel durch einen Gentest, kann die Wirksamkeit des Medikaments nachgewiesen werden und den Patienten zur Verfügung gestellt werden, anstatt wie bisher ausgemustert zu werden.

Warum braucht es dafür ein besonderes Zulassungsverfahren?

Die Ideen für neue Wirkstoffe kommen oft von kleinen Biotechfirmen oder direkt aus der akademischen Medizin und nicht unbedingt von den Pharmafirmen, die jedoch mehr Erfahrung und das nötige Geld für große, teure Studien haben. Zusammen mit der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA möchten wir solche kleinen Unternehmen oder Forschungszentren unterstützen, wie sie solche Studien erfolgreicher gestalten können. Oft stellen Firmen erst in der Phase zwei oder drei fest, dass sie die Studien falsch aufgesetzt haben. Das führt nicht nur dazu, dass möglicherweise wirksame Medikamente verloren gehen, sondern es werden auch Patienten mit einem Wirkstoff behandelt, der ihnen aufgrund ihrer Krankheitsform oder ihrer genetischen Konstitution gar nicht nützen kann. Wir schützen also einerseits Patienten, zum anderen helfen wir, Wirksamkeitsnachweise für eine bestimmte, gut definierte Patientengruppe zu generieren.

„Angepasster Zulassungsweg“ klingt für Kritiker eher nach Anpassung an die Bedürfnisse der Pharmafirmen und einem Senken der Prüfstandards.

Wir senken keine Standards, sondern wollen die Versorgung der Patienten verbessern. Das bedeutet, dass auf Basis wissenschaftlicher Daten zunächst kleine Patientengruppen von einer neuen Therapie profitieren. Wenn weitere Daten später einen Nutzen für andere und größere Patientengruppen zeigen, können auch diese davon profitieren. Mit dem Adaptive Pathway wollen wir in solchen Anwendungsgebieten Verbesserungen erreichen, in denen es bislang zu wenig Behandlungsmöglichkeiten gibt.

20 Minuten in der Sonne machen einen großen Unterschied

Die EMA hat derzeit elf Projekte in solchen Adaptive-Pathway-Zulassungen.

Mit denen testen wir das Verfahren. Es gab insgesamt 59 Anträge, wir haben elf ausgewählt, etwa aus der Onkologie. Da lassen sich bestimmte Krebstypen bereits gut unterscheiden, sodass man die Patientengruppe definieren kann. Wir haben auch Medikamente für seltene Erkrankungen ins Programm aufgenommen, bei denen die Zahl ohnehin sehr klein ist.

Was passiert, wenn sich nach der Zulassung mit zunehmender Patientenzahl herausstellt, dass es doch nicht so wirkt wie erhofft oder Nebenwirkungen auftreten?

Eine Zulassung im Adaptive-Pathway-Verfahren wird zunächst nur befristet erteilt und unter der Auflage, Daten nachzuliefern. Kommen diese Daten nicht oder sind nicht so, dass sie die Zulassung weiter unterstützen, erlischt die Zulassung.

Der Wächter. Karl Broich (56) ist Arzt und leitet seit August 2014 das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn.
Der Wächter. Karl Broich (56) ist Arzt und leitet seit August 2014 das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn.
© BfArM

Weniger Patienten in der Studie, früher auf dem Markt – das alles spart den Firmen bares Geld. Bedeutet das, dass die Unternehmen beim Preis entgegenkommen?

Für Pharmaunternehmen ist eine kleine Patientengruppe wirtschaftlich noch nicht ausreichend. Wenn sie aber weiter Daten liefern müssen, bis eine auch wirtschaftlich interessante Populationsgröße erreicht wird, stehen sie möglicherweise schon im Wettbewerb mit kostengünstigeren Nachahmerprodukten, weil Patentschutzfristen bereits abgelaufen sind. Das führt dazu, dass das Geld für die Entwicklung neuer Wirkstoffe fehlt. Wir wollen deshalb früh die Akteure mit einbeziehen, die in die Kostenerstattung involviert sind, wie den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) oder das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Deren Sorge ist es, dass ein Medikament per Adaptive Pathway erst für eine handverlesene Population zugelassen und ein hoher Preis festgelegt wird, und danach die Zulassung samt hohem Preis auf eine größere Patientenpopulation ausgeweitet wird. Wir wollen sowohl den Firmen als auch dem G-BA klarmachen, dass ein Adaptive-Pathway-Verfahren eine Erweiterung der Zulassung und neue Daten erfordert, die zu neuen Nutzenbewertungen und eher günstigeren Preisen führt.

Haben auch die Patienten ein Wörtchen mitzureden?

Beim Gemeinsamen Bundesausschuss sind die Patienten bereits involviert und auch bei der EMA wird das versucht. Gerade beim Adaptive-Pathway-Verfahren brauchen wir Patientenvertreter.

Wie können Patienten bei der Entscheidung helfen, ob ein Medikament zugelassen wird oder nicht?

Patienten sind oft die besten Experten für ihre Erkrankung. Bei der EMA wurde ein Medikament eingereicht, das Patienten mit einer schmerzhaften Licht- und Sonnenunverträglichkeit helfen sollte. Allein von den Studiendaten her war der Nutzen von „Scenesse“ nicht besonders überzeugend. Die Patienten können sich damit nur 20 Minuten länger in der Sonne aufhalten. Aber sie haben an uns appelliert, dass es einen großen Unterschied macht, ob sie ununterbrochen im Dunklen sein müssen oder 20 Minuten am Tag in die Sonne oder für zwei Stunden in einen hellen Raum können. Das hat uns bewogen, positiv zu bewerten.

Sie unterstützen Unternehmen oder Institute beim Design von Studien, deren Ergebnisse Sie anschließend kontrollieren. Gerät die Behörde da in einen Interessenkonflikt?

Natürlich müssen wir sicherstellen, dass bei der Einbindung in einer sehr frühen Entwicklungsphase auch im weiteren Verlauf die kritische Distanz erhalten bleibt.

Kontrolle wäre möglich, wenn die Studiendaten öffentlich einsehbar wären, zumindest ab der Zulassung. Bisher weigern sich Pharmafirmen, alle Daten offenzulegen.

Das ist ein Problem der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse. Unternehmer legen diesen Begriff eher großzügig aus, wir setzen uns für mehr Offenheit ein.

Ein Fünftel der Studien, deren Start auf Krebskongressen präsentiert wird, bleibt unveröffentlicht. Patienten werden sinnlos Substanzen verabreicht und womöglich gehen Daten über Nebenwirkungen verloren.

Inzwischen müssen uns Unternehmen jede Studie, bei der Menschen ein Wirkstoff verabreicht wird, zur Genehmigung vorlegen. Damit verpflichten sie sich, auch den Studienabschluss darzulegen. Man kann keine unbequemen Studien mehr verschwinden lassen.

- Das Gespräch führte Sascha Karberg.

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