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Eine Frau sitzt vor einem Laptop, auf dem eine Videokonferenz läuft, und schreibt in ein Heft.
© imago images/Westend61

Alles online an der Uni: "Routinen der Kommunikation funktionieren nicht mehr"

Wie verändern Videosysteme das akademische Miteinander? Vermisst wird nicht zuletzt die Kaffeepause. Avatare, die durch Räume driften, könnten helfen.

Die leeren Kacheln auf dem Bildschirm, wenn Studierende ihre Kamera nicht einschalten. Sich im Online-Seminar vorstellen, ohne in die Gesichter der anderen zu blicken. Nur mitreden dürfen, wenn man die virtuelle Hand hebt - und die Moderatorin einen drannimmt.

Das sind - neben schwächelnden Internetverbindungen, der geforderten Konferenzsoftware, die noch nicht installiert ist, oder der Kamera, die sich nicht an- oder ausschalten lässt - die Tücken der Online-Kommunikation. Studierende und Lehrende sind ihnen in der Coronakrise ausgeliefert. Ebenso wie allen übrigen Nutzern von Tools der Video-Kommunikation lassen ihnen die Abstands- und Hygieneregeln kaum eine andere Wahl.

Als am Dienstagabend zum Abschluss der diesjährigen Berlin Science Week ein Online-Podium des Interdisziplinären Zentrums Europäische Sprachen der Freien Universität zur "Kommunikation per Video" starten soll, passieren all diese störenden Dinge auf einmal. In der Übungssession wird klar, dass die gut 200 Teilnehmenden auf ein anderes Portal umgeleitet werden müssen. Einige Gäste funken mit ihrem Kamerabild oder mit Störgeräuschen dazwischen und häufig bewegt jemand stumm die Lippen.

Die Angst vor der abgrundtiefen Stille

Besser könnte es kaum laufen, um zu demonstrieren, worum es an diesem Abend geht, findet Paula-Irene Villa Braslavsky: "Die Routinen der Kommunikation funktionieren nicht, aber wir kommunizieren weiter." Die Professorin für Soziologie und Gender Studies ist aus München zugeschaltet - und kommt als Lehrende und als Podiumsgast souverän mit der Technik klar.

Doch zwei Situationen werfen sie regelmäßig aus der Bahn: bei der Aufzeichnung einer Vorlesung in ein "Void", also in die Leere, zu sprechen, und das Ausschalten des Computers nach einer gelungenen wissenschaftlichen Konferenz. "Wenn wir ausmachen, gibt es so eine abgrundtiefe Stille." Da fehle einfach das gemeinsame Kaffeetrinken, das Debriefing mit den Kolleginnen und Kollegen.

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Bestimmte Kinderkrankheiten der plötzlichen Digitalisierung seien mittlerweile überwunden, freut sich Villa Braslavsky: Kollegen, die während der Videokonferenz eindeutig im Bett liegen oder Gremiensitzungen, die sich ewig hinziehen, weil die "Alpha Boys" nicht mit der Technik zurechtkommen.

Nicht sehen können, dass die anderen uns wahrnehmen

Was aber anders bleibt, ist das "Element der Zwischenleiblichkeit", mit dem sich Kommunizierende in Präsenzsituationen aufeinander einstellen, erläutert die Soziologin. "In videogestützter Kommunikation können wir einander nicht anschauen." Gelingende Argumentation, das Gefühl, jemanden überzeugen zu können, "bedarf einer zwischenleiblichen, körperlichen Form".

Der Züricher Linguist Heiko Hausendorf nennt es mit Niklas Luhmann die "Wahrnehmungswahrnehmung", die viele vermissten. "Kommunikation lebt davon, dass wir die anderen sehen und sehen, dass uns die anderen wahrnehmen", sagt Hausendorf - und bedankt sich bei Paula Villa für deren zustimmendes Nicken in die Laptopkamera.

Montage eines Bildschirms voller Kacheln, auf denen Mitarbeitende der TU Berlin in die Kamera grüßen.
Daumen hoch. Im digitalen Sommersemester präsentierte sich die TU Berlin optimistisch.
© TU Berlin/Janine Rülicke (Monatge), Nico Rudolph (Freisteller)

Also werden wir in Video-Konferenzen doch wahrgenommen - und müssen neue Routinen der Kommunikation nur noch lernen? Es werde tatsächlich unterschätzt, "wie robust und anpassungsfähig die Interaktion ist", sagt Hausendorf. Die Schnelligkeit, mit der Videotechnik in die Hochschullehre eingeführt wurde, zeige mehr neue Möglichkeiten als Defizite.

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Was allerdings zu kurz komme, sei die "verkörperte Intimität" des Handschlags zur Begrüßung, des Wangenküsschens zum Abschied oder des Auf-die-Schulter-Klopfens im Gespräch. Die neuen Rituale, bei Online-Runden zum Abschied etwa "klopf-klopf" zu sagen oder in die Kamera zu winken, sind für Hausendorf bloß "Kopien von alten Interaktionsritualen".

Mythos der körperlosen Wissenschaft

Aber geht es nicht auch ohne dieses Beiwerk? Schließlich wird doch nicht nur auf diesem Online-Podium munter diskutiert - und der allgegenwärtigen Klage über die Tücken des Digitalen soziologische und linguistische Analysen entgegengesetzt. FU-Linguist Horst Simon widerspricht dem Mythos, dass wissenschaftlicher Austausch von Sachthemen geprägt und eher "körperlos" sei.

Sich in der Kaffeepause treiben zu lassen, dabei das Zufällige der Begegnungen und Gespräche zuzulassen - und unliebsame Tagungsgäste auch wieder loszuwerden, indem man sich einen Wein hole: All das sei in einer Videokonferenz nicht möglich, sagt Simon. Auch Villa Braslavsky empfindet "eine große Verarmung für das miteinander Arbeiten und Forschen".

Claudia Müller-Birn, Professorin für Human-Centered Computing an der FU, erlebt den Online-Aufbruch der Universitäten ganz anders. Schon einfache Konferenz-Schaltungen erlauben es, parallel zum Bild zu chatten und so auch Unbekannte "anzusprechen".

"Ich fühle mich wohler in dieser Distanz", sagt Müller-Birn. Und empfiehlt den Kolleg*innen den in Berlin entwickelten virtuellen Event-Raum Wonder.me, der es ermöglicht, frei zwischen Personen oder Gesprächen von Interesse zu navigieren - mit eigenen Avataren.

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