„Uns stehen sehr schwere Wochen bevor“: RKI-Chef Wieler warnt vor 100.000 Neuinfektionen pro Tag
Die dritte Corona-Welle werde wohl schlimmer als die beiden ersten, warnt Wieler. Minister Spahn befürchtet im April den Kollaps des Gesundheitssystems.
Angesichts des sprunghaft steigenden Infektionsgeschehens in Deutschland haben Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, vor einer Eskalation der Lage gewarnt.
„Wir befinden uns am Anfang der dritten Welle. Es gibt sehr deutliche Signale, dass diese Welle noch schlimmer werden kann als die ersten beiden Wellen“, sagte Wieler am Freitag bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Spahn in Berlin. Mit Blick auf die Zahl denkbarer Neuinfektionen sagte er: „Das können dann auch 100.000 pro Tag werden.“
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Man müsse sich darauf einstellen, dass „wieder mehr Menschen schwer erkranken, dass Kliniken überlastet und dass viele Menschen auch sterben werden“. Befragt zum gegenwärtigen Lockdown machte Wieler deutlich, dass er aus infektionsmedizinischer Sicht schärfere Auflagen für nötig hält. „Wir hatten ein Lockdown, der diesen Namen verdient, letztes Jahr im Frühjahr.“
Er erinnerte an Ostern 2020, als die Menschen sich besonders genau an die Lockdown-Regeln gehalten hätten. Damals habe man kaum einen Menschen auf der Straße angetroffen. Damals stand das Land tatsächlich weitgehend still; auch die Wirtschaft und die Produktion lag brach, weil die Lieferketten zusammengebrochen waren. Ob so ein scharfer Lockdown noch einmal durchsetzbar wäre, ist allerdings fraglich. Die Mehrheit der Bürger ist gegen eine Verschärfung und das Vertrauen in die Politik ist seitdem stark gesunken.
Man sehe aktuell viele Ansteckungen in Privathaushalten, Kitas und am Arbeitsplatz, erklärte Wieler. „Denn das Virus verbreitet sich überall dort, wo Menschen sich anstecken.“ Mit dem Virus B.1.1.7 sei die Kontaktnachverfolgung noch schwieriger. Die Zahl der Patienten auf den Intensivstationen sei im Moment wieder sehr stark gestiegen, sagte Wieler. „Uns stehen sehr schwere Wochen bevor.“
Er mahnte: „Wir können diese Welle nicht mehr verhindern, aber wir müssen versuchen, sie abzuflachen.“ Wenn man sich treffe, dann möglichst im Freien, verantwortungsbewusst und mit Vorsichtsmaßnahmen. „Und bitte reisen Sie nicht – weder ins Inland noch ins Ausland.“ Die Mobilität müsse dringend eingeschränkt werden. Und: „Wenn Sie ein positives Testergebnis erhalten, informieren Sie selbstständig Ihre Kontakte“, appellierte Wieler.
Auch Spahn zeichnete für die nächste Zeit ein düsteres Bild. „Momentan steigen die Zahlen zu schnell und die Virusvarianten machen die Lage besonders gefährlich“, sagte er. „Wenn das ungebremst weitergeht, laufen wir Gefahr, dass unser Gesundheitssystem im Laufe des Aprils an seine Belastungsgrenze kommt.“ Spahn warnte weiter: „Wenn wir nicht sofort massiv gegensteuern, werden die Folgen gravierend sein.“
Spahn sagte, Umfragen zeigten, dass es auch in der Bevölkerung einen steigenden Anteil gebe, der sich mehr Auflagen wünsche. Im am Freitag veröffentlichen aktuellen Politbarometer von ZDF und Tagesspiegel äußerten tatsächlich 36 Prozent der Befragten die Ansicht, die Corona-Schutzmaßnahmen müssten verschärft werden. Dies ein Plus von 18 Prozentpunkten gegenüber dem Vormonat. Allerdings halten auch ganze 26 Prozent (+3) der Befragten die geltenden Regeln für übertrieben, für 31 Prozent sind sie „gerade richtig“ (- 24).
Der Gesundheitsminister appellierte an die Bundesländer, die vereinbarte „Notbremse“ bei hohem Infektionsgeschehen konsequent anzuwenden und äußerte sich angesichts des steigenden Infektionsgeschehens kritisch, zu denen in einigen Ländern geplanten Modellregionen. So plant das Saarland für alle Bürger ab dem 6. April unter Auflagen den Ausstieg aus dem Lockdown. Spahn sagte dazu: „Die Notbremse verträgt sich natürlich nicht mit Modellregionen.“
Die Bürger bat er, sich an Ostern sowie davor und danach idealerweise nur draußen mit anderen zu treffen. Das Eindämmen von Ansteckungen bleibe auch bei anziehenden Impfungen wichtig. „Je höher die Inzidenz, desto weniger hilft das Impfen, um die Zahlen zu drücken.“
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Dieses Osterfest sei noch nicht wieder so zu gestalten wie gewohnt, sagte Spahn. Dafür seien die Infektionszahlen zu hoch. Deutschland sei wahrscheinlich „im letzten Teil dieses Pandemie-Marathons“ angekommen. Das Ziel sei in Sicht, aber eben noch ein ganzes Stück weg. „Gerade im letzten Teil des Marathons wirkt nicht selten jeder weitere Schritt wie eine Tortur.“ So gehe es vielen in dieser Phase.
Die von Bund und Ländern vereinbarte „Notbremse“ sieht vor, Öffnungen zurückzunehmen, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz in einer Region oder einem Land an drei aufeinander folgenden Tagen auf über 100 steigt. Diese Zahl der neuen Fälle pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen stieg dem RKI zufolge am Freitag bundesweit weiter auf 119,1.
[Kampf gegen das Coronavirus: Wie Bund und Berlin die Probleme bei Impfungen und Tests lösen wollen, lesen Sie hier (T+).]
Mit Blick auf die vielkritisierte Impfkampagne sagte Spahn, im April würden 15 Millionen Dosen erwartet. Das seien mehr, als im ganzen ersten Quartal verimpft worden seien. Das mache deutlich, „wie die Impfkampagne an Dynamik gewinnen kann und gewinnen wird“. Alle aus der zweiten Prioritätsgruppe – unter anderem Menschen ab 70 Jahren, Menschen mit Vorerkrankungen und bestimmte Berufsgruppen – sollten nun in die Impfkampagne einbezogen werden.
Spahn wies darauf hin, dass die Impfungen bei älteren Menschen schon deutlich Wirkung zeigen. So sei die Sieben-Tage-Inzidenz bei Menschen über 80 Jahren von über 290 Anfang Januar auf jetzt 55 gefallen. Am aktuellen Infektionsgeschehen seien sie „unterdurchschnittlich“ beteiligt. Auch die Corona-Ausbrüche in den Pflegeheimen seien deutlich zurückgegangen, von über 370 pro Woche Ende des vergangenen Jahres auf aktuell weniger als 20 pro Woche.
Spahn mahnte zugleich mehr Flexibilität beim Impfen an. „Ich bin dafür, dass auch die siebte Dosis aus den Fläschchen gezogen wird“, sagt Spahn zum Impfstoff von Biontech/Pfizer. Dies sei aber nicht immer technisch umsetzbar. Man könne zudem übrig gebliebene Impfstoffe problemlos verimpfen. Über 70-Jährige könnten doch „einfach ihren Ausweis vorzeigen“ und an den Impfzentren einen kurzfristigen Termin bekommen.
„Es braucht einfach Pragmatismus. Und die Impfverordnung macht Pragmatismus auch möglich“, erklärte Spahn, der zudem noch einmal die Impfstrategie verteidigte „Wir hätten diese Priorisierungsfrage nicht in 50.000 Hausarztpraxen treffen können“, sagte der Minister. Deshalb habe es Impfzentren für die Priorisierungsgruppe 1 gebraucht. Künftig werde man aber, wenn die Impfstofflieferungen wie geplant kämen, auch in den Hausarztpraxen das Impfen vorantreiben.