Häufigster Eingriff bei Geburten: Risiko Dammschnitt
Schnitt ins Leben: Bei jeder zehnten Geburt wird ein Dammschnitt gesetzt. Viel zu oft ist er unnötig – und die Folgen können die Frau langfristig belasten.
Nach 15 Stunden tritt der Chefarzt in den Kreißsaal und geht vor dem Unterleib von Veronika Peters* auf und ab. Während die Schwangere schweißgebadet und schreiend ihr Kind aus dem Geburtskanal zu schieben versucht, befindet der Mann: „Sie arbeiten da nicht richtig mit. Machen wir mal lieber einen Dammschnitt.“
Die Hebamme schaut noch fragend, die Herztöne des Kindes sind eigentlich normal – doch die Schere klappert schon, Sekunden später fühlt sich Peters plötzlich „offen“, spürt warmes Blut und hält bald darauf ihre Tochter in den Armen.
An den schnellen Schnitt erinnert sich Peters später kaum noch. Wohl aber an die Zeit danach. Sie kann sich nicht normal auf einen Stuhl setzen, ohne dass der vernähte Damm schmerzt. Beim Wasserlassen brennt die Wunde. Der Stuhlgang ist eine Qual.
Erst nach zwei, drei Wochen wird es langsam besser. Aber der erste Sex nach neun Wochen ist ein Albtraum. Ihr Scheideneingang ist wie zusammengeschnürt und brennend wund. Ihr vergeht die Lust. Erst nach Monaten lässt die Pein nach.
Populär gemacht hat den Dammschnitt in den 1920er Jahren ein einflussreicher Geburtsmediziner aus den USA. Mit der Episiotomie, bei der die Scheidenöffnung seitlich oder diagonal in Richtung des Anus mit einer Schere aufgeschnitten wird, wollte Joseph DeLee Kinder schneller zur Welt bringen, die Muskulatur im Beckenboden der Frau sollte weniger Risse davon tragen, und die Organe würden nicht so leicht nach unten rutschen, wenn die Frau nicht mehr so intensiv pressen muss.
So die Idee des Arztes, die inzwischen in vielen Ländern der Welt gynäkologische Routineprozedur ist. Zwar gibt es keine exakten Daten darüber, wie viele Episiotomien jährlich stattfinden. Aber laut Statistik der Krankenhäuser in Deutschland waren es 2016 rund 87.000, also 12 Prozent der Krankenhausgeburten. Damit ist der Dammschnitt der häufigste Eingriff unter der Geburt und gehört zu den fünfzig häufigsten Operationen überhaupt.
Und das, obwohl er in den meisten Fällen unnötig ist.
WHO: Ein Eingriff, der meist keinen Nutzen bringt
Schon 2008 hielt die Weltgesundheitsorganisation fest, dass der Eingriff, routinemäßig durchgeführt, keinen Nutzen habe. Der Beckenboden der Frauen sei nicht unversehrter als ohne Schnitt und die Probleme nach der Geburt nicht seltener.
Häufig können die Mütter nach einem Dammschnitt Stuhl und Wasser nicht mehr so gut halten, besonders beim Hüpfen, Niesen oder in Stresssituationen. „Die Studien zeigen durchgängig keinen Nutzen des Dammschnittes zum Schutz vor Inkontinenz und für den Beckenboden“, fasste das Fachjournal „Jama“ 2005 zusammen. Im Gegenteil: Ein gerissener Damm heilte häufiger besser und schneller als ein geschnittener, stellten die Gutachter fest.
Trotzdem ist der Schnitt noch immer beliebt – bei den Ärzten, wohlgemerkt, nicht bei den Frauen: In einer Studie von 2016 gaben von 648 Frauen mit Dammschnitt 16 Prozent an, nach der Geburt unter beachtlichen Schmerzen beim Geschlechtsverkehr gelitten zu haben. Die sexuelle Zufriedenheit kehrte zwar nach einiger Zeit wieder zurück. Frauen, die natürlich und ohne Dammschnitt oder Dammriss entbunden haben, waren aber deutlich früher wieder sexuell aktiv – nach etwa viereinhalb Wochen. Mit Dammschnitt sind es siebeneinhalb.
Das Problem mit der Naht
Nicht der Schnitt, sondern die Naht und die Narbe verursachen die Schmerzen. Die Leiterin des Beckenbodenzentrums an der Universitätsfrauenklinik in Tübingen formuliert es diplomatisch: „Wichtig ist, dass das Gewebe anatomisch sauber wieder genäht wird. Man kann schön nähen und weniger schön. Das macht den Unterschied.“ Weniger diskret gesagt: Immer wieder nähen Ärzte den Dammschnitt schlampig zusammen. Zum Leidwesen der Frauen.
Darauf lassen zahllose Fallgeschichten in Internetforen schließen: Eine Frau beschreibt etwa, dass sie über Wochen Schmerzen hatte und nicht mehr mit ihrem Partner schlafen konnte. Ihre Frauenärztin sei geschockt gewesen, als sie die Narbe sah, weil „alle Hautschichten quer durcheinander zusammengeflickt“ gewesen seien. Sie trennte das Gewebe wieder auf und nähte es erneut. Nach vier Tagen waren die Schmerzen weg.
Die Intimchirurgin Luise Berger aus München hat immer wieder Patientinnen, deren Dammschnitt so genäht wurde, dass an der Kante zum Damm nach hinten eine Narbe entstanden ist: „Wenn das so ist, haben die Frauen auf Monate, wenn nicht Jahre Schmerzen beim Geschlechtsverkehr.“
Betreuung und richtige Kommunikation
Wenn er nichts nützt, wieso ist der Dammschnitt dann nicht längst ausgemustert? Die Antwort hat wenig mit Medizin und noch weniger mit dem Wohlergehen der Frau zu tun.
Gemäß der in Deutschland geltenden medizinischen Leitlinien ist der Eingriff vor allem dann gegeben, wenn die Herztöne des Kindes sich während der Geburt verschlechtern. Aber Fälle wie bei Peters lassen erahnen, dass die Indikation oft auf dürrer Grundlage gestellt wird.
Um einen Dammschnitt zu vermeiden, bedarf es vor allem der richtigen und ständigen Betreuung der Frau unter der Geburt, sodass diese das Kind mit aller mentalen und körperlichen Kraft gebären kann. Bei der zweiten Geburt sagte eine der Hebammen zu Peters, sie solle bei der Austreibung wie auf der Toilette pressen. „Aber es soll doch weiter vorne heraus“, vergewisserte sie sich erstaunt in einer Wehenpause. „Es sind dieselben Muskeln“, antwortete die Hebamme. Diesmal gebar Peters ohne den Scherenschnitt.
Zwei Metaanalysen von 2017 und 2016, die mehr als einem Dutzend Studien zusammenfassen, belegen den Zusammenhang zwischen einer intensiven Geburtshilfe und einer komplikationsfreien Geburt: Wenn Gebärende durchgängig von einer Geburtshelferin oder einem Geburtshelfer betreut und angeleitet werden, finden deutlich weniger Dammschnitte statt – und auch weniger andere operative Eingriffe und Schmerzmitteleinsätze. Und die Mütter sind hinterher zufriedener.
In den Kliniken ist die Personaldecke für eine solche Betreuung zu dünn. „Die Hebammen können nur alle halbe Stunde mal reingucken“, sagt Nina Knape, Hebammenwissenschaftlerin von der Hochschule Ludwigshafen am Rhein. „Das ist fatal.“
Peters hat das genau so erlebt. Unter der Geburt ihres ersten Kindes in einer Berliner Klinik kam höchstens jede Stunde eine Hebamme vorbei, um geschwind den Muttermund zu messen. Erst in der Austreibungsphase in den letzten zwanzig Minuten standen ihr zwei Geburtshelferinnen bei.
Das gute alte heiße Wasser
Hebammen wissen, wie sich ein Dammschnitt vermeiden lässt. Dazu gehört etwa das Erwärmen des Damms mit nassen, warmen Tüchern oder Dammmassage. Und gerade bei der ersten Geburt braucht das Gewebe Zeit, um sich zu dehnen und Platz für den Kopf des Kindes zu machen. Zeit, die in der Klinik oft fehlt und durch wehenfördernde Mittel mitunter verkürzt wird.
Die Kniffe der Hebammen kennen Geburtsmediziner in der Regel nicht und sehen das auch nicht als ihre Aufgabe. „Ich vergleiche die Geburt gerne mit einer Bergwanderung. Wir sind die Bergführerinnen, die die Frau hinaufbegleiten. Der Arzt ist die Bergwacht, der einschreitet, wenn etwas nicht wie vorgesehen läuft“, sagt die leitende Hebamme Elfriede Lochstampfer am Klinikum Stuttgart. Aus der Perspektive der Ärzte stehen die Risiken im Mittelpunkt der Geburt. Deshalb greifen sie tendenziell schneller zur Schere. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider: In Geburtshäusern und hebammengeleiteten Kreißsälen liegt die Rate der Dammschnitte deutlich geringer – bei rund fünf Prozent.
Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb sich der Schnitt in den Kliniken hält: Im Abrechnungssystem der Krankenhäuser machen sich die Eingriffe bezahlt. Frauen, die lange in den Presswehen liegen, kosten nur. Das setzt einen Fehlanreiz zu voreiligen Dammschnitten.
Ist der Dammschnitt also ein Fluch der Frauen? Oft, zu oft, aber nicht immer. Denn fraglos verkürzt der Eingriff die Endphase der Geburt und kann so ein gefährdetes Kind, dessen Herztöne alarmierend nachlassen, vor einer Schädigung bewahren, etwa einer Unterversorgung des Gehirns. Dem vorzubeugen, dafür nimmt wohl jede Frau Schmerzen in Kauf. Aber eben nur dann.
* Name geändert
Ein Stich mehr für den Mann: Nach dem Dammschnitt wird zugenäht – mitunter auch ein, zwei Stiche mehr – damit der Scheideneingang schön eng ist, dem Ehemann zuliebe. Niemand weiß, wie oft dieser „husband stitch“ praktiziert wird – gewollt oder ungewollt. Aber dem Manne gefällige Optimierungen liegen im Trend. Nicht nur Brust-OPs. Seit Jahren steigt auch die Zahl der Frauen, die sich ihre Vagina verengen lassen. „Die Frauen beklagen, dass das so schlaff geworden sei“, sagt die Münchener Intimchirurgin Luise Berger. Pro Woche kämen rund sieben Patientinnen, die Scheidenverengungen wünschen. Die Motive seien immer ähnlich: „Die Frauen fühlen sich nicht jugendlich, nicht mehr vollständig und sind unglücklich, wenn sich der Partner beschwert.“ Mit einem Radiofrequenzgerät erhitzt Berger den Vaginalkanal, sodass sich das Scheideninnere zusammenzieht. Permanente Vaginalverengungen per OP gibt es erst für viele tausend Euro. Etwa 5000 Frauen kommen pro Jahr an das Beckenbodenzentrum der Tübinger Universitätsklinik, offiziell um Darmschlingen oder verrutschte Harnröhren behandeln zu lassen. Bei den Beckenbodenplastiken bekomme aber auch der Vaginalkanal eine „normale Anatomie“, so Leiterin Christl Reisenauer. „Aber auch die Zufriedenheit mit dem Sex spielt eine Rolle. Welchen Anteil männliche Wünsche haben, können wir nicht sagen.“
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