Verschwörungstheorien: Rettungsanker für Überforderte
Verschwörungstheorien helfen ihren Anhängern, auch in komplexen Zeiten den Durchblick zu behalten. Es ist auch die Sache Geisteswissenschaftlern, gegen die Tendenzen falscher Wirklichkeitsdarstellung anzudenken.
In einer Zeit, in der die Krise keine Ausnahme mehr, sondern die Regel darstellt, wächst die Zahl derer, die sich nach formelhaften Wahrheiten und engen Identitätskorsetten sehnen. Wie nicht bloß wissenschaftliche Studien, sondern auch öffentliche Debatten nahelegen, sickern verschwörungsideologische und rechtsradikale Denkfiguren zunehmend vom Rand her in die Mitte der Gesellschaft ein. Augenscheinlich macht sich vielerorts ein starker Wille zur Komplexitätsreduktion bemerkbar.
Es ist nicht zuletzt die Sache von Philosophen und Geisteswissenschaftlern, gegen die Tendenzen falscher oder vereinfachter Wirklichkeitsdarstellung anzudenken, und die – zugegeben – oft schwer erträgliche Komplexität in den (Be)Griff zu bekommen.
Was genau aber hat es mit besagter Komplexitätsreduktion eigentlich auf sich? Und wie hängen die derzeit häufig beklagten Aufschwünge von verschwörungsideologischem Denken und identitären Reinheitsfantasien im Einzelnen zusammen?
Man darf sich zu denen zählen, die die Weltformel des Übels durchschauen
Das verschwörungsideologische Denken der Gegenwart lässt sich laut dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen nicht zuletzt als eine Praktik „intellektueller Notwehr“ begreifen, wie er unlängst auch auf dem Philosophiefestival „phil. Cologne“ in Köln erklärte. Demnach fungiert diese verunglückte Form des Denkens als eine Art Rettungsanker für überforderte Subjekte, die in den Informationsfluten digitaler Untiefen gleichsam zu ertrinken drohen. Mit der Verschwörungstheorie erhält der im Angesicht der überbordenden Postmoderne verunsicherte Mensch ein beruhigendes Metanarrativ zur Hand. Dieses gestattet ihm eine unmittelbare Einordnung zum Teil widersprüchlicher Informationssplitter in ein vorstrukturiertes Baukastensystem. Wie viel Neues der Verschwörungstheoretiker dabei auch erfahren mag, sein Wissensstand bleibt immer der gleiche. Wobei sich der vermeintlich Wissende mithilfe seines manichäischen Weltbildes laut Pörksen auch selbst ein hübsches Kompliment macht.
Immerhin darf er sich zu jener widerständigen Schar von Aufrechten zählen, die die Weltformel des Übels durchschaut und das Blendwerk des Bösen als solches erkannt haben. Mit Pörksen gesprochen, ermöglicht die Verschwörungstheorie also „eine Sofort-Entwertung jeder offiziellen Information, mit der man sich nicht genau beschäftigen möchte, bei einer gleichzeitigen Totalsuggestion des eigenen Durchblicks“.
Philosophisch gesehen, meint Pörksen, handelt es sich hierbei um die Verzahnung von zwei gegensätzlichen Erkenntnistheorien: Mit Blick auf die eigene Position sei der Verschwörungstheoretiker ein knallharter Realist, ein unverbesserlicher Wahrheitsdogmatiker. Was offizielle Tatsachen angeht, herrsche dagegen ein radikaler Skeptizismus vor. Der naive Wahrheitsglaube auf der einen und der paranoide Totalzweifel auf der anderen Seite ziehen dann auch jenen asymmetrischen Blick auf die Quellen für und wider den eigenen Standpunkt nach sich, der Verschwörungsideologien grundsätzlich anhaftet. Alles was kantenlos in den immer schon paraten Baukasten hineinpasst, wird nicht so genau unter die Lupe genommen, eben weil es passt; hinter allem was sich sperrt, muss man ob dieser Widerborstigkeit notwendig Lüge und Verblendung vermuten.
Alles ist mit allem verbunden: Dazu bedarf es bizarrer Verrenkungen
Der Tübinger Kulturhistoriker Michael Butter, der mitverantwortlich für ein transnationales Forschungsprojekt zum Thema Verschwörungstheorien zeichnet, an dem mehr als 130 Wissenschaftler aus 36 Ländern beteiligt sind, meint denn auch, dass der Komplexitätsreduktion im Großen zumeist ein Herstellen von „semiotischer Komplexität“ im Kleinen entspricht. Denn der radikale Verschwörungstheoretiker, der der Logik folgt, dass alles mit allem verbunden ist, muss ja bizarre Verrenkungen vollziehen, um jedes noch so poplige Detail seinem dürftigen Baukasten einzufügen. Eben dies aber, so Butter, macht Verschwörungstheorien für viele so verführerisch. Denn in der unübersichtlichen Spätmoderne seien diese eine der letzten Formen, in denen sich Totalität – also das Ganze – widerspruchsfrei denken lasse.
Zugleich liefern derartige Theorien laut Butter ein säkulares Äquivalent zur religiösen Heilsgeschichte, mit dem Unterschied, dass der große Plan der Verschwörer – anders als der des guten Gottes – im Verschwörungsdenken meist auf bösen Absichten gründet. So sei es kein Zufall, dass Verschwörungstheorien im 18. Jahrhundert einen enormen Auftrieb erfuhren. Die Leerstelle, die Gott als Letztinstanz im Zuge der Aufklärung hinterließ, nahmen die dunklen Mächte der Verschwörung ein. Die entstehende Unsicherheit – die durch die aufkeimende Komplexität empfundene Bedrohung – wurde mit der Suche nach neuen Mustern kompensiert.
Die Formel von der großen Verschwörung beseitigt Zufall und Kontingenz. So bieten Verschwörungstheorien laut Butter auch eine entlastende Erklärung dafür, wieso einem die Felle davonschwimmen, weshalb man von sozialem Abstieg bedroht ist, warum man es nicht schafft, seine Pläne in die Tat umzusetzen. Gegenwärtig stellen sie zum Beispiel eine Rahmenerzählung für die Wirren der Globalisierung zur Verfügung. Oder für den Umstand, dass man als heterosexueller weißer Mann plötzlich feststellen muss, dass die eigene Lebensform nicht die einzige darstellt.
Grundfalsche Prämisse: Planbarkeit von Geschichte
Beide, Pörksen und Butter, sind dabei mit dem Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Karl Popper der Auffassung, dass Verschwörungsideologen von der grundfalschen Prämisse einer totalen Planbarkeit von Geschichte ausgehen. Sie weigerten sich schlicht, die systemischen Effekte und strukturellen Gegebenheiten anzuerkennen, die die Sozialwissenschaften präzise erforschen, und deuten historische und gesellschaftliche Ereignisse als alleiniges Ergebnis individueller Absichten.
Das Gefährliche an Verschwörungstheorien ist letztlich, dass sie fast immer eine Sündenbockfunktion haben, also Feindbilder produzieren, und dabei tief in die Mottenkiste hergebrachter Ressentiments greifen. Nicht von ungefähr weisen sehr viele Verschwörungstheorien einen entweder eindeutigen oder doch wenigstens impliziten Antisemitismus auf. Die judenfeindlichen Stereotype (Geldgier, geheime Machenschaften und so weiter), die als Ablagerungen der abendländischen Geschichte nach wie vor in der Gesellschaft virulent sind, prägen die Wahrnehmungsweisen von Verschwörungsideologen. Nicht zuletzt hier, bei der Feindbildfunktion, werden die häufigen Überlappungen von Verschwörungstheorien und rechtsradikalen Denkfiguren offensichtlich.
Der Münchener Soziologe Armin Nassehi, der auf der „phil. Cologne“ über Identitätsfragen sprach, beschäftigt sich unter anderem mit der menschlichen Tendenz zur Bildung von Kollektiven. Dabei fragt er, unter welchen Bedingungen die klare Trennung des Eigenen vom Fremden, oder gar des Freundes vom Feind überhaupt relevant wird. Nassehi kommt zu dem Ergebnis , dass besonders in Krisenzeiten „starke identitätspolitische Zumutungen“ entstehen. Je unübersichtlicher und verwirrender sich die Situation gestaltet, desto stärker sehnen sich die Menschen nach Halt gebenden Identitätskorsetten. Kollektive Identitätsformen wie die Nation, die immer ein Konstrukt darstellen und eben nichts Natürliches sind (wie die Rechten meinen), schaffen Sichtbarkeiten, die das Gefühl von Sicherheit in unsicheren Zeiten vermitteln.
Die Identität von Flüchtlingen wird reduziert
Dabei fällt auf, dass sich die Identitätsbeschreibung im Hinblick auf die Mitglieder der eigenen Gesellschaft selten in diesem einen Merkmal der Zugehörigkeit erschöpft. Diejenigen aber, die man als Vertreter eines fremden Kollektivs wahrnimmt, scheinen über diese angebliche Zugehörigkeit meist hinreichend beschrieben. So käme kein Deutscher auf die Idee, dass über einen Deutschen alles gesagt sei, wenn man ausspricht, dass es sich um einen Deutschen handelt. Tatsächlich ist damit noch gar nichts gesagt.
Was „die Flüchtlinge“ – als die paradigmatischen Anderen der Gegenwart – angeht, ist hingegen zu beobachten, dass deren Identität zuweilen auf das eine, zufällige Ereignis der Flucht reduziert wird. Die ansonsten völlig heterogenen Biografien spielen dann schlicht keine Rolle, die Schicksale von Millionen Individuen werden in einem einzigen Begriff gebündelt. Ein fremdes Kollektiv entsteht, das man als solches adressieren kann. In Abgrenzung zu diesem lässt sich dann auch definieren, was das eigene ausmacht.
Die unübersichtlichen weltpolitischen Umwälzungen fordern die Frage nach der Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer Gruppe in besonderem Maße heraus und verstärken zugleich den Wunsch, ein Zentrum des Bösen identifizieren zu können, das die überfordernden Ereignisse orchestriert.
Das zentrale Konzept der Identitären Bewegung
Ein zentrales Konzept der Identitären Bewegung ist nicht von ungefähr die Idee des „großen Austauschs“. Dunkle Mächte (wer damit wohl gemeint sein mag?) planen demnach die eingesessene eigene Bevölkerungsgruppe durch ein migrantisches, also fremdes Kollektiv zu ersetzen. Hochkomplexe weltpolitische Gemengelagen werden in eine simple Gleichung überführt. Wer Freund, wer Feind, wer gut und wer böse ist, ist eindeutig benannt, das unerträgliche Chaos löst sich in Ordnung auf.
Die entfesselte Globalisierung, die die Welt mit jedem Tag ein bisschen größer und unüberschaubarer macht, wirkt als Treibmittel für Verschwörungsdenken und rechtsradikale Freund-Feind-Konzepte. Im intellektuellen Kampf gegen die wachsende Verunsicherung gilt es, der Komplexität die Stirn zu bieten, und die unterkomplexen Antworten der Verunsicherten als solche zu benennen.
Christoph David Piorkowski