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Freiwillige Helfer stehen am 05.09.2015 am Hauptbahnhof in München neben dem Schild "Welcome to Munich".
© Nicolas Armer/dpa

Soziologe Armin Nassehi: "Die extreme Willkommenskultur hatte nicht nur die Flüchtlinge im Blick"

Der Soziologe Armin Nassehi plädiert dafür, problematische Folgen der Einwanderung als Thema nicht länger den Rechten zu überlassen, und analysiert den aktuellen Kulturkampf.

Sie sagen, ein Grund für das Erstarken der Rechtspopulisten in Deutschland sei das Fehlen einer angemessenen Debatte über negative Migrationsfolgen. Wie kommen Sie darauf?

Die Thematisierung negativer oder problematischer Migrationsfolgen haben wir viel zu lange den Skeptikern und Rechten überlassen. So entstand ein Schwarz-Weiß-Denken. Wir wurden von den Ereignissen getrieben, statt selbst Treiber der Ereignisse zu sein. Vor dem Anschlag am Breitscheidplatz beispielsweise hatten manche Regierungspolitiker eine ganz andere Haltung in sicherheitspolitischen Fragen und solchen zur Personenüberwachung eingenommen als danach. Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Ich stehe Migration sehr positiv gegenüber. Migration ist ebenso unvermeidlich wie für uns notwendig – schon aus demografischen Gründen.

Schwarz-Weiß-Denken auf die Diskussion übertragen bedeutet, wer sich kritisch zur Migration äußert, ist böse?

Denken Sie an die Willkommenskultur des Sommers 2015. Schon damals habe ich gesagt: Denkt mal darüber nach, was passiert, wenn dieses Charisma weg ist. Es gibt Gruppen in der Gesellschaft, die wenig geübt sind im Umgang mit kultureller oder sonstiger Form von Abweichung. Denkt darüber nach, dass die Aufnahme dieser Menschen nicht nur eine moralische, sondern auch eine operative Frage ist. Für solche Positionen gab es kaum einen Raum, in dem man hätte weiterführend diskutieren können.

Viele Menschen fürchten, dass die Gesellschaft auch in Deutschland sich weiter spalten könnte, so wie es jetzt in den USA der Fall ist. Sehen Sie diese Gefahr?

Derzeit findet eine Art Kulturkampf um die „Narrative Authority“ statt, um die Kompetenz, die Situation zu definieren. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die als sogenannte Modernisierungsverlierer erleben, wie das, was noch vor einiger Zeit als Mittelschichtsnormalität galt, zumindest in Frage gestellt werden kann, nicht nur im Hinblick auf Migrationsfragen, sondern auch im Hinblick auf Familienformen, Geschlechterrollen, sexuelle Orientierungen, neue Arbeitsformen und professionelle Kompetenzen. Auf der anderen Seite positioniert sich eine sehr kosmopolitische, moralisch allzu selbstbewusste und selbstgerechte, auch oft mit ökonomischer Potenz gedeckte Gruppe, die quasi mit links Begriffe wie Kultur, Volk, Nation dekonstruiert, aber auch veränderten Arbeitswelten offen gegenüber eingestellt ist. Es ist gewissermaßen die Gruppe, die mit der Komplexität einer Gesellschaft der checks and balances, der Uneindeutigkeit und der Gewaltenteilung (nicht nur im politischen Raum) vertraut ist. Das hat nicht in erster Linie mit Distributions-  und sozialpolitischen Fragen zu tun, es geht um zwei unterschiedliche Arten, wie man die Welt versteht. Die Flüchtlinge waren da nur ein Trigger.

Also gibt es keine Möglichkeit zum Diskurs, ohne sofort in einem ideologischen Lager verortet zu werden?

Die Problematik ist in jedem Fall vielfältig und betrifft zum Beispiel auch Genderfragen oder Sexualität. Im Lebensmitteleinzelhandel etwa kann man seit kurzem beobachten, dass in manchen ost- und südosteuropäischen Ländern nur noch einheimische Produkte verkauft werden können. Vor einigen Jahren war das noch völlig anders. Auch der Brexit, dieser Hass auf Europa, lassen sich ökonomisch nicht erklären. Es geht um ein Distinktionsbedürfnis. In diesen Kulturkampf ist die Flüchtlingskrise wie ein Verstärker hereingebrochen. Auch wenn es sich böse anhört: Auch die extreme Willkommenskultur hatte nicht nur die Flüchtlinge im Blick, sondern bediente auch ein Abgrenzungsbedürfnis gegen kleinbürgerliche Ängste und Enge.

Um was geht es bei diesem Kampf ums Narrativ? Homogenität versus Heterogenität?

Auch – schauen Sie sich eine Sozialfigur wie den AfD-Politiker Gauland an. Er steht geradezu habituell für den Sozialtypus, der vor einer Generation so etwas wie eine „narrative authority“ hatte, „Normalität“ darzustellen. Ähnliches finden Sie offensichtlich in den USA. Trumps Wähler sind offensichtlich diejenigen, die mit ihrer Wahl ein Fremdheitserleben kompensieren, das mit einer komplexen, globalisierten, unübersichtlichen Welt zu tun hat. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind dabei letztlich Kompensationsmittel zur Herstellung von Übersichtlichkeit. Trumps Versuch des „Durchregierens“ erscheint dann geradezu als Erlösung von der Unübersichtlichkeit. Wir spotten über die weißen alten Männer. Aber das ist nur ein Symbol für eine Normalität, die dadurch erkauft wurde, dass vieles andere, das davon abwich wie Homosexualität, Emanzipation oder Gleichstellung, aber auch neue Arbeitsformen und Kreativitätsbedingungen zwar toleriert wurden, aber nicht narrationsfähig waren. Das sollte man nicht unterschätzen.

Und jetzt überwiegt die andere Seite.

Die Schwierigkeit ist, dass aus der Perspektive des eher gebildeten Kosmopoliten die anderen das Problem sind, und aus der Sicht des Modernisierungsverlierers ist es eben umgekehrt. Das ist ein sehr stabiles Konfliktsystem, in dem man sich ständig gegenseitig bestätigt. Da allerdings die - ich nenne sie Modernisierungsgewinner - deutlich sympathischer, weil zukunftsoffener wirken, haben sich die großen Parteien wenig überraschend mit ihnen arrangiert. Die Union möchte gerne die weibliche Großstädterin ansprechen, darin moderner werden, die SPD arrangiert sich mit den sozialen Aufsteigern in den akademisierten Mittelschichten, statt für Bedingungen sozialen Aufstiegs zu sorgen, was stets ihre historische Aufgabe war. All das rächt sich inzwischen. Denn eine Demokratie braucht wählbare Alternativen.

Die CSU versucht mit kernigen Sprüchen, diese Klientel wieder einzusammeln. Ich zitiere Peter Ramsauer: „Jetzt muss es wieder um den deutschen Steuerzahler gehen, nicht um die Finanzierung von Flüchtlingen.“

Ach, Ramsauer. Damit bestätigt man die Ängstlichen eher. Abgesehen davon, dass es angesichts der ökonomischen Situation in Deutschland nicht primär ums Geld geht. Was man manchen jüngeren Akteuren in der CSU freilich bescheinigen muss, ist, dass sie sich wenigstens darum bemühen, so etwas wie eine konservative Selbstbeschreibung für die Gegenwart neu entwerfen zu wollen. Das gelingt womöglich nur ansatzweise, aber Manches ist besser als die kraftstrotzenden Sätze des bayerischen Ministerpräsidenten vermuten lassen, die sich offensichtlich manche law-and-order-Fantasien Trumps zum Vorbild genommen haben. Alles in allem fehlt uns aber ein wohlwollender eingeübter Diskurs über problematische Folgen von Migration – und wenn es nur eingebildete Folgen sind. Will die politische Mitte diese Leute wieder abholen, dann muss sie auch darauf eingehen.

Sprechen wir wirklich nicht ausreichend über negative Migrationsfolgen? Das geschieht doch in fast jeder Talkshow.

Ja, aber die Talkshow lebt von dem stabilen Konfliktsystem. Hier treffen die markigen Seiten aufeinander. Und es wird dann über Großkategorien wie „den Islam“ oder über „den Westen“ gesprochen. Das sind meistens Selbstbestätigungsrituale. Wünschenswert wäre zum Beispiel mehr Wissen darüber, warum manche Personengruppen nicht aus stark intern integrierten ethnischen Gruppen rauskommen, auch darüber übrigens, warum sogenannte gut integrierte Migranten auch noch in der dritten Generation in Deutschland als Migranten gelten. Stattdessen entsteht eine abstrakte Islamfeindschaft – die Trump derzeit unter Beifall des IS und der Hamas international noch sagbarer macht.

Und wie sähe eine Alternative aus?

Tatsächlich wird in der zweiten oder dritten Generation der Zuwanderer der Islam für manche Wenige als Ressource entdeckt, um sich von einer Situation abzugrenzen, die man selbst nicht ändern kann. Für Jungs, die hier nichts zu tun haben, ist das ein tolles Identitätsangebot. Gegen wirklich gefährliche Gruppen muss man mit aller möglichen polizeilichen und juristischen Härte vorgehen – auch zum Schutz des allergrößten Teils von hier gut und gerne lebenden Abkömmlingen von Migranten. Das heißt aber nicht, dass man sie nicht verändern kann. Man muss die Frage stellen, unter welchen Bedingungen solche Orientierungen erst gar nicht auftreten.

Armin Nassehi hat den Lehrstuhl für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er wurde 1960 als Sohn einer Deutschen und eines Persers in Tübingen geboren, studierte in Münster und an der Fernuni Hagen und habilitierte sich mit einer Studie über die Biografien ehemaliger Insassen in sowjetischen Zwangsarbeitslagern. Nassehi hat sich auch intensiv mit den Wurzeln des Rechtspopulismus beschäftigt. So hat er im Jahr 2014 einen Briefwechsel mit Götz Kubitschek, einem der prominentesten Vertreter der "Neuen Rechten" geführt, den er später in dem Buch "Die letzte Stunde der Wahrheit" veröffentlicht hat. Armin Nassehi wurde für seine publizistische und wissenschaftliche Arbeit vielfach ausgezeichnet.
Armin Nassehi hat den Lehrstuhl für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er wurde 1960 als Sohn einer Deutschen und eines Persers in Tübingen geboren, studierte in Münster und an der Fernuni Hagen und habilitierte sich mit einer Studie über die Biografien ehemaliger Insassen in sowjetischen Zwangsarbeitslagern. Nassehi hat sich auch intensiv mit den Wurzeln des Rechtspopulismus beschäftigt. So hat er im Jahr 2014 einen Briefwechsel mit Götz Kubitschek, einem der prominentesten Vertreter der "Neuen Rechten" geführt, den er später in dem Buch "Die letzte Stunde der Wahrheit" veröffentlicht hat. Armin Nassehi wurde für seine publizistische und wissenschaftliche Arbeit vielfach ausgezeichnet.
© imago stock und people

Wir befinden uns in einem Dilemma?

Ja natürlich. Das ist das Problem von Stereotypen – zumal wir es mit einer Überthematisierung von Migration zu tun haben. Wir können nicht ohne Stereotype durch die Welt gehen, sonst müssten wir zu viele Informationen bewältigen. Solche Typisierungen helfen uns, Dinge einzuordnen. Ein Phänomen der Krisensituation ist es, dass da, wo Sichtbarkeiten wie Hautfarbe oder Sprache vorhanden sind, immer mehr Identität vermutet wird, als vorhanden ist. Dass jemand eine andere Hautfarbe hat, hat überhaupt keine Bedeutung - wir reagieren aber darauf, ob wir wollen oder nicht. Auch ich sehe einen Schwarzen, weil er schwarz ist. Das Dilemma besteht darin, dass die öffentliche Diskussion aus diesem Merkmal eine Gruppe macht. Wer sind denn eigentlich „die Schwarzen“ oder „die Araber“ oder „die Frauen“ und „die Bayern“? Aber wenn wir nicht weiter wissen, halten wir uns eben an Sichtbarkeiten.

Das Problem der Kölner Silvesternacht.

Ich wollte da nicht Polizeichef sein, wenn ich entscheiden müsste, ob ich jetzt nach äußeren Merkmalen vorgehe oder nicht. Aus diesem Dilemma kommt man nicht heraus. Wenn man es aber als Dilemma formuliert, ist schon etwas gewonnen. Denn damit gibt man zu erkennen, dass es nicht nur die eigene Sicht der Welt gibt.

Und wie hebt man solche Sichtbarkeiten auf?

Das funktioniert durch Kontakt und Praxis. Indem mir jemand, der schwarz ist, etwas völlig anderes erzählt, nehme ich ihn nicht mehr nur als Schwarzen wahr. Genau so läuft es doch auch bei der Inklusion. Mit einem Rollstuhlfahrer sollte ich über Kunst oder Schalke 04 reden können, ohne Zusammenhang damit, dass er im Rollstuhl sitzt und ich nicht.

Diese Sichtbarkeiten scheinen aber stärker statt schwächer zu werden.

Konkret kommt man aus solchen Situationen nur über praktische Verhältnisse heraus, indem man etwas zusammen tut. Nur ein kleines Beispiel: Mercedes Benz hatte zum Beispiel ein Programm, das hieß „Integration an der Werkbank“ oder so ähnlich. Azubis unterschiedlicher Herkunft müssen da gemeinsam ein Problem lösen, das nichts mit Herkunftsfragen zu tun hat, ein technisches nämlich. Da sieht man schnell, dass praktische Dinge gemeinsam funktionieren können. Auch wenn so noch keine Kulturprobleme beseitigt sind, hat man schon eine Menge gewonnen. Wer das Beispiel naiv nennt, hat nicht verstanden, dass sich unsere Lebensformen und das, woran wir uns gewöhnen, normalerweise in solch kleinräumigen Konstellationen ausbilden und stabilisieren.

Das Interview führte Ruth Ciesinger.

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