Hitzewellen in der Arktis: Polarforscher fordern Konsequenzen
Eine spektakuläre Arktis-Mission führte das Forschungsschiff „Polarstern“ quer durchs Polarmeer. Messdaten der Expedition zeigen nun eine verschärfte Erwärmung der Arktis.
Erste Ergebnisse der spektakulären Mosaic-Expedition des deutschen Forschungsschiffs Polarstern in der Arktis legen nahe, dass der Klimawandel dort noch stärkere Auswirkungen hat als bislang befürchtet. Während der Expedition habe sich im Frühjahr 2020 das Eis der Arktis schneller zurückgezogen als jemals zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen, berichtete nun der damalige Expeditionsleiter Markus Rex von der Potsdamer Forschungsstelle des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI).
[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]
Auch sei das Eis nur noch halb so dick wie vor fast 130 Jahren gewesen. Dadurch habe sich die Eisdecke im Herbst viel später geschlossen, die eisfreie Zeit im Sommer verlängerte sich. Die Polarforschenden stellten zudem fest, dass die Temperaturen während des Expeditions-Winters 2019/2020 in der Arktis fast durchgehend um zehn Grad höher lagen als als bei Nansens Arktisexpedition im Jahr 1893.
Im Sommer hatte der Ozean große Mengen an Wärme aufgenommen
„Durch die lange eisfreie Zeit im Sommer konnte der Ozean große Mengen an Wärme aufnehmen und speichern“, erklärte Rex. Hier kommt auch ein Rückkopplungseffekt ins Spiel: wenn die weiße Eisfläche wegtaut, wird die Sonnenwärme nicht mehr reflektiert, sondern vom Meer aufgenommen, wodurch noch mehr das Eis noch schmilzt.
Die Auswertung der gesammelten Daten soll nun in den kommenden Jahren zeigen, ob das ganzjährige arktische Meereis durch konsequenten Klimaschutz noch zu retten ist. „Oder ob wir diesen wichtigen Kipppunkt im Klimasystem bereits überschritten haben“, sagte Rex.
Ein solches Überschreiten dieses könne zu einer Abfolge von Ereignissen führen, in deren Verlauf weitere Kipppunkte ausgelöst werden, womit die Erwärmung immer weiter angetrieben werde. Das Verschwinden des grönländischen Eisschildes oder das Auftauen immer größerer Bereiche des arktischen Permafrosts wären demnach solche Kipppunkte.
Der Atmosphäre in großem Umfang Kohlendioxid entziehen
Um das Risiko solcher Kaskaden zu reduzieren, sind nach Ansicht des Polarforschers größere Anstrengungen im Klimaschutz nötig. Rex ist der Auffassung, dass dafür spätestens in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts der Atmosphäre in großem Umfang Kohlendioxid entzogen werden muss. „Die Technologien dafür müssen wir heute entwickeln“, sagte Rex jüngst bei einem ersten Zwischenbericht über die Ergebnisse acht Monate nach dem Ende der Expedition.
Das Ziel, der Atmosphäre für den Klimaschutz CO2 in größerem Stil zu entnehmen, verfolgt auch die Bundesregierung. „Die ersten Erkenntnisse der Mosaic-Expedition haben deutlich gemacht, wie ernst die Lage und wie groß der Handlungsbedarf ist“, sagte Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU).
„Wir werden unsere Emissionen reduzieren und darüber hinaus lernen, massiv CO2 wieder aus der Atmosphäre rauszuholen“, sagte die Ministerin. Dafür werde das BMBF in einem ersten Schritt zwei Programme mit 50 Millionen Euro fördern, die erforschen, wie CO2 in Ozeanen und Böden eingelagert werden kann. „Das darf aber nur der Anfang sein“, sagte Karliczek.
Die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre zum Klimaschutz ist in der Wissenschaft umstritten. Erst jüngst war eine im Fachjournal „Nature Climate Change“ veröffentlichte Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass das Verfahren einen weniger starken Effekt auf das Fortschreiten des Klimawandels habe als die Vermeidung von Emissionen.
Bei der Arktis-Mission, die als eine der größten Arktisexpeditionen bisher gilt, wurden Daten „in nie dagewesenem Umfang“ gesammelt, wie Markus Rex berichtet. Gegenwärtig werden sie von mehreren hundert Wissenschaftler:innen in rund 300 Forschungsvorhaben weltweit ausgewertet. Allein bis 2023 wird mit einigen hundert Fachveröffentlichungen zum Klimawandel gerechnet.
Mehr als 1000 Eisbohrkerne wurden gewonnen
Über 100 Parameter des arktischen Klimasystems wurden das gesamte Jahr über beobachtet. Es wurden Messungen bis in 4,3 Kilometer Meerestiefe unternommen, bis in die Höhe von 36 Kilometern stiegen insgesamt 1500 Wetterballons auf. Mehr als 1000 Eisbohrkerne wurden aus dem Meereis gewonnen.
„Wir sind dabei, unser Wissen über das arktische Klimasystem Puzzlestück für Puzzlestück aus den Messungen zusammenzusetzen“, so der Polarforscher Rex. Wie er sagt, seien bei der Expedition nicht nur spannende, sondern auch „besorgniserregende Erkenntnisse“ gewonnen worden.
Die Forschenden hatte in Polarwinter erleben können, dass die Wintermonate in der Arktis tatsächlich um viele Grade wärmer geworden sind. „Wir haben zugesehen, wie in der Arktis das Eismeer stirbt“, hatte Rex direkt nach der Rückkehr gesagt. Im Sommer habe man am Nordpol erodiertes, dünnes, brüchiges Eis gesehen.
12 Monate durchs Polarmeer gedriftet
Ein Jahr lang von Herbst 2019 bis Herbst 2020 war die „Polarstern“ an einer Eisscholle quer durch das Nordpolarmeer gedriftet. Ziel war es, auch im Winter am Nordpol Umweltprozesse beobachten zu können, die für das Klima wichtig sind. Die Region ist Teil der Wetterküche Mitteleuropas und wird gegenwärtig am stärksten von der Erderwärmung getroffen. Auf der Expedition konnten der gesamte Eiszyklus vom Gefrieren bis zur Schmelze gemessen und dokumentiert werden.
Mit Hilfe von Mess- und Forschungsstationen sammelten 300 Forschende aus 20 Nationen direkt auf dem Polareis große Datenmengen. Man sei mit einem „Schatz an Daten und Proben“ zurückgekehrt, „der die Klimaforschung dauerhaft verändern wird“, sagte Rex. Die Forschenden brachten mehr als 150 Terabyte an Daten und mehrere 10.000 Proben mit nach Hause.
Erklärung für rätselhaften Eisschwund
In diesen Tagen ist eine noch ungeprüfte Studie als Preprint erschienen, die unter anderem auch Daten aus der Mosaic-Expedition aufgegriffen hat. AWI-Forschende waren der Frage nachgegangen, warum das Eis in der nördlichen Framstraße nordöstlich Grönlands im Jahr 2016 gerade mal einen Meter dick war – und damit 30 Prozent dünner als in den Jahren zuvor.
Die Forschenden konnten sich die Differenz nicht erklären. „Um das Rätsel zu lösen, haben wir zunächst mithilfe von Satellitenaufnahmen die Driftroute des Eises zurückverfolgt“, so der Leitautor Jakob Belter. Dabei ergab sich, dass das Eis ursprünglich aus der nördlich von Russland gelegenen Laptewsee stammte. Die Forschenden überprüften, ob das Wetter entlang der Strecke der Auslöser war. Doch die Daten der Atmosphäre zeigten von 2014 bis 2016 keine Auffälligkeiten.
Fündig wurden die Forschende schließlich im Ozean selbst. Daten von Kolleg:innen der Universität Fairbanks in Alaska zeigten, dass es von Januar bis Mai 2015 im Gebiet nördlich der Laptewsee außergewöhnlich hohe Wassertemperaturen gab.
Die Forschenden konnten rekonstruieren, dass die Wärme mit atlantischen Wassermassen aus der Tiefe aufgestiegen war und so das winterliche Wachstum des jungen Meereises verlangsamte.
„Anhand der Satellitendaten können wir belegen, dass das dünne Eis, welches wir im Juli 2016 in der Framstraße vermessen haben, zuvor genau durch dieses außergewöhnlich warme Meeresgebiet vor der russischen Kontinentalkante gewandert ist“, erklärt Belter.
Die Hitzewelle im Ozean war offenbar so ausgeprägt, dass die Auswirkungen auf das Wachstum des Meereises bis zum Ende der Eisdrift über den Arktischen Ozean nicht ausgeglichen werden konnten. Für ihre Analyse hatten die Forschenden auch Ergebnisse aus Messungen der Eisscholle der Mosaic-Expedition genutzt.
Komplex wie das Räderwerk einer Uhr
Das Klimasystem vergleicht Mosaic-Expeditionsleiter Markus Rex mit dem Räderwerk einer Uhr. Es sei sehr komplex, mit zahlreichen Einzelprozessen, die sich alle gegenseitig beeinflussen. „Wir haben die Uhr geöffnet, haben die Funktionen jedes einzelnen Häkchens, Zahnrädchens und Federchens genauestens studiert – so haben wir das Klimasystem genau vermessen“, sagte er zur Expedition.
Die alarmierenden Ergebnisse verbindet der Wissenschaftler mit einem Appell an die Öffentlichkeit. Es komme jetzt darauf an, für das Klimaziel der Bundesregierung auch gesellschaftliche Mehrheiten zu bekommen, sagte Rex. Allerdings sei Politik und Gesellschaft in Deutschland bei dem Thema „noch weit zurück“ und „viel zu langsam“.