Historischer Meilenstein der Polarforschung: Forschungsschiff nach Nordpolpassage zurückgekehrt
Nach einem Jahr endet die größte und aufwändigste wissenschaftliche Polar-Exkursion. Deutschlands Forschungsschiff „Polarstern“ bringt einzigartige Daten aus der Arktis mit.
Expeditionsleiter Markus Rex erinnert sich an die gespenstische Ruhe an Bord. Als das Forschungsschiff „Polarstern“ an der Eisscholle festgefroren war, gab es nichts mehr, keine Bewegung, kein Schwanken. Doch dann wurde die Stille plötzlich von einem Stoßen und Zittern, Quietschen und Kreischen durchbrochen. Es waren die Geräusche der „Eisdruckereignisse“, in der Nähe des Schiffes schoben sich haushohe Presseisrücken auf. Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei, dann herrschte wieder völlige Ruhe im arktischen Polarmeer.
Eine Expedition der Superlative
Es war eine Expedition der Superlative, die größte und aufwändigste wissenschaftliche Unternehmung ihrer Art. Nach einem Jahr ist die Polarstern am gestrigen Montag planmäßig nach Bremerhaven zurückgekehrt. Im Oktober vergangenen Jahres hatten die Wissenschaftler das Schiff an einer Eisscholle festfrieren lassen, mit der es dann bis zum Frühsommer quer durch das Nordpolarmeer gedriftet war, ganz nach dem Vorbild des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen im Jahre 1893.
Bei der Hafeneinfahrt begleiteten zahlreiche andere Schiffe am Montag die Polarstern. Es war der Schlusspunkt der großangelegten internationalen Mosaic-Expedition zur Erforschung klimarelevanter Prozesse. Mosaic steht für „Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate“, zu Deutsch: „Multidisziplinäre treibende Beobachtungsstation zur Erforschung des Klimas in der Arktis“. Die Expedition dauerte 389 Tage, kostete rund 140 Millionen Euro. Insgesamt mehr als 600 Teilnehmer, darunter 300 Forschende von 80 Instituten aus 20 Ländern waren involviert. Forscher und Schiffscrew wurden dreimal getauscht. Sechs Schiffe unterstützen den die Versorgung der Polarstern, zwei Polarflugzeuge begleiteten die Messkampagnen. Über 60 Eisbären wurden in der Zeit in der Nähe des Forschungsschiffes gesichtet, einer musste mit Warnschüssen verjagt werden. 3400 Kilometer ging es im Zickzackkurs mit einer Driftgeschwindigkeit von bis zu 25 Kilometern am Tag quer durch das Nordpolarmeer.
Im Februar erreichte die Polarstern eine Position 156 Kilometer vom Nordpol entfernt – ein Rekord: nie zuvor war ein Schiff im Winter so weit nördlich. Rund 150 Tage der Expedition fanden im dauerhaften Dunkel der Polarnacht statt. Am 10. März fiel die Temperatur auf minus 42 Grad, gefühlt minus 65 Grad. Trotz der widrigen Umstände brachten die Forscher 70 Tonnen Ausrüstung im Eiscamp auf der 2,5 mal 3,5 Kilometer großen Eisscholle, an der das Forschungsschiff festgefroren war, in Stellung. Allein 5000 Meter Stromkabel wurden verlegt.
Mehrfach stand die Expedition wegen der Corona-Pandemie auf der Kippe, der Austausch der Crewmitglieder verzögerte sich, ein Messprogramm mit Forschungsflugzeugen entfiel teilweise, die Expedition musste ihre Eisdrift sogar kurz unterbrechen. Nun fehlen Daten für etwa einen Monat. Doch die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unter der Leitung des Potsdamer Polarforschers Markus Rex vom AWI ließen sich nicht beirren, das einzigartige Forschungsprojekt wurde fortgeführt.
Es wurden Messungen bis in 4,3 Kilometer Meerestiefe unternommen, bis in die Höhe von 36 Kilometern stiegen insgesamt 1500 Wetterballons auf. Mehr als 1000 Eisbohrkerne wurden aus dem Meereis gewonnen. Ein Ziel der Expedition ist es, die Auswirkungen des Klimawandels auf die Arktis genauer zu erforschen. Die Region, die Teil der Wetterküche Mitteleuropas ist, wird gegenwärtig am stärksten von der Erderwärmung getroffen. Rund um das Schiff war ein Netzwerk aus Messstationen entstanden. Deren Daten sollen Klimamodelle verbessern helfen. Zum ersten Mal soll damit das gesamte Klimasystem in der Zentralarktis erforscht werden.
Ein Schatz an Daten und Proben
„Wir kommen zurück mit einem Schatz an Daten und Proben, der die Klimaforschung dauerhaft verändern wird“, so Rex. Das Klimasystem sei sehr komplex, man könne es sich wie das Räderwerk einer Uhr vorstellen, mit zahlreichen Einzelprozessen, die sich alle gegenseitig beeinflussen. „Wir haben die Uhr geöffnet, haben die Funktionen jedes einzelnen Häkchens, Zahnrädchens und Federchens genauestens studiert - so haben wir das Klimasystem genau vermessen.“ Über 100 Parameter wurden das gesamte Jahr über genau beobachtet. „Wir habe praktisch von jedem Zahnrädchen darin gezählt, wie viele Zähne es hat.“ Das sei die Voraussetzung dafür, das System zu verstehen und in einem Klimamodell nachbauen zu können. Das gelinge mit den neuen Daten besser. „Bislang musste man zuweilen raten, wie viele Zähne ein Rädchen hat – und dann tickt die Uhr eben nicht zuverlässig.“
Wie Expeditionsleiter Markus Rex berichtete hatten die Forschenden bei ihrer Expedition erleben können, dass die Wintermonate in der Arktis tatsächlich „viele Grade wärmer“ geworden seien. „Wir haben zugesehen, wie in der Arktis das Eismeer stirbt“, sagte Rex. Im Sommer habe man direkt am Nordpol erodiertes, dünnes, brüchiges Eis gesehen. „Wenn wir die Klimaerwärmung nicht sofort und massiv bekämpfen, wird das arktische Eis im Sommer bald verschwunden sein, mit unabsehbaren Folgen für Wetter und Klima auch bei uns“, sagte Rex. Das Eis sei nur noch halb so dick wie vor 40 Jahren und die Temperaturen hätten im Winter fast durchgehend zehn Grad höher gelegen, als bei Nansens Arktisexpedition vor gut 125 Jahren.
Am 30. Juli war die Eisscholle, an der die Polarstern hing, dann erwartungsgemäß zerborsten – 301 Tage nach Beginn der Expedition. Unter lautem Knallen sei das Eis zerbrochen, berichtet der Potsdamer Expeditionsleiter Rex. „Es ist uns gelungen, den Lebenszyklus der Mosaic-Scholle seit Anfang Oktober letzten Jahres bis zu ihrem Ende zu begleiten“, erklärte Rex.
Ozonverlust und immer weniger Meereis
Es war ein ungewöhnlicFoto: Patrik Stollarz/AFPes Jahr. Im Frühjahr hatten die Forscher die einmalige Gelegenheit, den stärksten Ozonverlust, der sich seit Messbeginn über der Arktis abgespielt hat, zu messen. 95 Prozent des Ozons wurde in der Höhe zerstört, wo eigentlich das Maximum des Ozons liegen sollte. „Wir saßen in der ersten Reihe und konnten alles genau dokumentieren“, erinnert sich Rex. Die Aufzeichnungen würden zu einem besseren Verständnis führen, wie Ozonschicht und Klimasystem miteinander wechselwirken. Im Sommer dann war die arktische Meereisausdehnung so gering wie noch nie seit Beginn der Satellitenmessungen. In der russischen Arktis waren im Juli rund eine Million Quadratkilometer Ozeanfläche weniger von Meereis bedeckt als in den letzten sieben Jahren.
Die Forscherinnen und Forscher wollen Umweltprozesse in der Arktis besser verstehen und Klimamodelle zur Abschätzung der globalen Erwärmung verbessern. Der Einfluss der Arktis darauf ist enorm. Bislang fehlen aber Messdaten und Beobachtungen aus der zentralen Arktis, insbesondere aus dem Winter und Frühling.
Diese Lücken sollen die riesigen Datenmengen von über 150 Terrabyte der Expedition nun schließen. Eigentlich geht die Expedition jetzt erst richtig los, wenn all die Ergebnisse ausgewertet werden. Das wird Monate und Jahre dauern. „Dieser einmalige Datensatz ist ein Geschenk an die ganze Menschheit“, sagte AWI-Direktorin Antje Boetius.
Und Rex ergänzte: „Wir haben im vergangenen Jahr die Grenzen des Machbaren in der Arktisforschung verschoben, Rekorde gebrochen und die Zukunft dieser Forschung neu definiert.“ Die Expedition sei ein historischer Meilenstein der Polarforschung.