Diskussion um Offene Wissenschaft: "Open Science" ist vielen zu offen
"Open Science" soll gesellschaftliches Vertrauen in die Wissenschaft stärken. Doch Experten warnen vor verschärfter innerwissenschaftlicher Konkurrenz.
Steht die Wissenschaft vor einem dramatischen Umbruch durch „Open Science“? Das zumindest strebt die Europäische Kommission als wichtiger Akteur in der Wissenschaftspolitik an. Das Programm der offenen Wissenschaft werde zu einem Systemwandel in Wissenschaft und Forschung führen, hieß es 2016 zur Open-Science-Politik der EU: weg vom Publizieren der Forschungsergebnisse in Fachzeitschriften hin zum Teilen und Nutzen allen verfügbaren Wissens schon zu einem früheren Zeitpunkt, also bereits im Forschungsprozess.
Experten warnen jetzt vor unerwünschten Nebeneffekten. „Solche Programme könnten zwar eine mobilisierende gesellschaftliche Wirkung entfalten, rufen aber auch Gegenkräfte hervor, die darin keine Befreiung, sondern eine Bedrohung sehen“, schreiben Ulrich Riehm vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Michael Nentwich, Direktor des Instituts für Technikfolgenabschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Neue Transparenz durch Digitalisierung
Ihre Untersuchung der Chancen und Risiken von Open Science haben Riehm und Nentwich jetzt in der aktuellen Ausgabe der „Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis“ (TATuP; Ausgabe 1-2/2017) veröffentlicht. Das gesamte Heft des vom ITAS herausgegebenen Journals, das nach einem Relaunch als Open-Access-Zeitschrift erscheint, ist dem Thema „Open Science zwischen Hype und Disruption“ gewidmet.
Was ist so offen an der Open Science – und worin könnte das Bedrohungspotenzial liegen? Zunächst geht es bei dem Konzept um unterschiedliche Ziele, erklären die Autoren: um mehr Kollaboration von Wissenschaftlern, aber auch Bürgern bei der wissenschaftlichen Arbeit und um den freien Zugang zu ihren Ergebnissen (Open Access). Anders gesagt geht es um den Abbau von Grenzen, die durch Disziplinen und Hierarchien gekennzeichnet sind, sowie um den Abbau der Grenze zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Die Digitalisierung ist dabei der entscheidende Faktor, der diese neue Transparenz in der Forschung ermöglicht.
Auch Konkurrenten können in den laufenden Projekten mitlesen
In Zeiten von Fake News, Klimaleugnern und Impfgegnern könnte die Open Science durchaus „dabei helfen, die gesellschaftliche Relevanz von Forschung und damit auch ihre Legitimation zu verbessern“, erklärt Riehm einer Mitteilung des KIT zufolge. Doch die Transparenz führt eben nicht nur dazu, dass interessierte Laien frühzeitig Einblick in Forschungsprojekte nehmen können, sondern auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die mit dem offen arbeitenden Team im Wettbewerb sind. Das könne in einer „Verschärfung der innerwissenschaftlichen Konkurrenz münden“, heißt es in dem Aufsatz.
Gleichzeitig verstärke die auf digitalen Medien beruhende Offenheit „die (wissenschaftsfremde) Kontrolle der Wissenschaft“ und schränke damit wissenschaftliche Autonomie und Freiheit ein, kritisieren Riehm und Nentwich. Die EU-Kommission, die Open Science propagiert, versucht negativen Effekten vorzubeugen, indem sie etwa betont, dass geistiges Eigentum geschützt werden müsse, bevor Wissen öffentlich verfügbar gemacht werde.
Ende der professionellen Wissenschaft
Open Science könnte sogar „das Ende der professionalisierten Wissenschaft“ bedeuten, indem sie die „professionellen Standards und Rollen“ aufweicht, die sich in der Wissenschaft entwickelt haben, wie Sascha Dickel, Soziologe an der Universität Mainz, in einem weiteren TATuP-Artikel ausführt.
Bei alledem sehen Riehm und Nentwich aber auch eine positive Perspektive, die allerdings einen Minimalkonsens darstellen würde – „offene Wissenschaft“ als deskriptive Klammer für Öffnungsprozesse, die nicht mehr aufzuhalten sind. „Open Science könnte als eine Art Dach für Konzepte fungieren, die sich in den letzten Jahren aus dem disziplinären wissenschaftlichen System herausgebildet haben“, heißt es. Zu nennen wären etwa die Bürgerwissenschaften und transdisziplinäre Forschung.
Wie sich die Bürgerwissenschaft auch in den Geisteswissenschaften verbreitet, lesen Sie hier.