Citizen Science: Die Laienforscher kommen
Jeder kann Entdecker werden: Von der „Citizen Science“ profitieren auch die Geisteswissenschaften. Durch die Digitalisierung haben sich die Möglichkeiten für Laien stark erweitert.
Maria von Stutterheim aus Lichterfelde fand den Kriegsausbruch 1914 hochinteressant. Jedenfalls trug die Berlinerin alles zusammen, was sie finden konnte – Zeitungsausschnitte, Fotos, Postkarten – und klebte alles in ein eigens angelegtes Fotoalbum. Auch ein gutgelauntes Gedicht findet sich dort: „Deutschland. Jeder Tag – ein Schlag. Jede Stunde – frohe Kunde. Jeder Krieg – ein Sieg!“ 103 Jahre später hat die Berliner Studentin Christin Eberhardt die Frakturschrift der Zeitungsausschnitte und die handgeschriebenen Anmerkungen in Sütterlin entziffert. 18 Seiten von Stutterheims Album hat die 29-Jährige mittlerweile bearbeitet. Einfach so, in ihrer Freizeit.
Dass sich die Wege von Eberhardt und Stutterheim überhaupt kreuzten, ist der Website Transcribathon.eu zu verdanken, die seit Ende 2016 online ist. Es ist ein Geschichtsportal zum Mitmachen. Das Besondere an der Seite, die an das gigantische Erste-Weltkriegs-Archiv Europeana1914-1918.eu angeschlossen ist: Auf Transcribathon muss man kein Experte sein, um historische Dokumente zu entschlüsseln. Es reichen rudimentäre Fähigkeiten beim Lesen alter Schriften und ein bisschen Lust an Detektivarbeit. Schon kann es losgehen. „Mir gefällt, dass man hier mit anderen gemeinsam etwas schafft“, sagt Eberhardt.
Citizen Science boomt
Bürgerwissenschaft ist keine neue Erfindung. Laien beteiligen sich seit Jahrhunderten an der Wissensgewinnung. Doch erst durch die Digitalisierung haben sich die Möglichkeiten stark erweitert. Das Feld der Citizen Science boomt, seit jede und jeder mit dem Smartphone in der Tasche zum Sammler und Entdecker werden kann. Bislang sind es vor allem die Naturwissenschaften, die von dem Hype profitieren. Bürger helfen dabei, den Mückenatlas zu vervollständigen; sie nehmen Gewässerproben, dokumentieren Lichtverschmutzung, melden Wildschweine, fotografieren den Landschaftswandel. Und erzeugen damit wertvolles Forschungsmaterial, das Wissenschaftler in dieser Fülle niemals zusammentragen könnten.
In der kultur- und geisteswissenschaftlichen Forschung war der Bürgerwissenschaftler in den letzten Jahren dagegen eine noch seltene Erscheinung. Das ändert sich gerade. Laut einer Studie des Instituts für Innovation und Technik („Citizen Science auf dem Weg in den Wissenschaftsalltag“, Berlin 2016) gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Projekten. Vor allem in den Bereichen Regionalgeschichte, Genealogie, Kunst- und Kulturgeschichte engagieren sich Hobbyforscher – zum Beispiel, indem sie Grabsteine fotografieren oder Sterbebücher digitalisieren. Um sich einen Überblick zu verschaffen, werteten die Autoren der Studie die Website „Bürger schaffen Wissen“ aus. Sie ist die zentrale Plattform für Citizen Science-Projekte in Deutschland. Dass sie unter anderem vom Bundesbildungsministerium gefördert und vom Berliner Naturkundemuseum und dem Leibniz Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung betrieben wird, zeigt, wie hoch das Thema Bürgerwissenschaften politisch mittlerweile gehängt wird.
Das Ethnologische Museum will die Massen begeistern
Aus gutem Grund wollen die Geisteswissenschaftler also aufholen. Nur wie? Noch liegen nur wenige Erfahrungen vor, wofür die Massen sich begeistern lassen. 2013 hatte das Ethnologische Museum in Berlin deshalb einen Testballon gestartet und gemeinsam mit der Fraunhofer-Gesellschaft eine App für die Verschlagwortung („Tagging“) von Bildern aufgesetzt. Die Idee war, dass unerschlossene Datenbestände – vor allem Fotografien aus Afrika aus dem frühen 20. Jahrhundert – von freiwilligen Helfern beschrieben werden. „Du sieht eine Person, eine Hütte, die Sonne? Sag's uns!“ So wirbt das Programm um Mithilfe. Nach vier Jahren Laufzeit sind rund 2000 Nutzer weltweit der Aufforderung gefolgt und haben über 6000 Tags gesetzt. „Wir hatten keine spezielle Zielgruppe im Auge, wir wollten einfach mal sehen, wie groß das Interesse an Partizipation grundsätzlich ist“, sagt Kuratorin Monika Zessnik.
Das Interesse ist da. Aber es gibt etliche Hürden. Oft braucht es eine gewisse inhaltliche Vorbildung. Auch mit der Arbeit am Computer sollte man vertraut sein. Und dann ist da noch der Durchhaltewille. Reinschnuppern und kurz ausprobieren – das machen viele. Doch nur die wenigsten bleiben längere Zeit dabei. Der Berliner Historiker Frank Drauschke, der mit seiner Agentur „Facts & Files“ die Seite Transcribathon entwickelte, hat deshalb intensiv darüber nachgedacht, welche Anreize ein erfolgreiches Citizen Science-Portal bieten muss. Auf Transcribathon gibt es ein Ranking der fleißigsten Helfer. Man misst sich mit anderen und kann vom Rekruten zum Champion aufsteigen. „Das funktioniert gut als Ansporn“, sagt Drauschke. 900 Nutzer aus ganz Europa haben sich im letzten halben Jahr registriert.
Spielerische Ansätze bergen Risiken
Der spielerische Ansatz, genannt Gamification, auf den nicht nur Transcribathon setzt, birgt aber auch Risiken. Was, wenn die Nutzer nur noch auf die Rankings schielen und dabei die Sorgfalt vernachlässigen? Nicht so schlimm, meint Drauschke. Zum einen kann sich die Community gegenseitig korrigieren. Zum anderen solle hier ja keine historisch-kritische Ausgabe alter Handschriften erarbeitet werden. „Es geht vor allem darum, dass die Digitalisate über Tags und Transkriptionen von Suchmaschinen überhaupt gefunden werden.“
Ohne diese Annotationen („Enrichments“) würden die eingescannten Quellen im Netz schlicht unsichtbar bleiben. Besonders die Verlinkung von Dokumenten mit Geo-Koordinaten ist hilfreich. Auf der Landkarte kann man damit sogar zu den entferntesten sibirischen Dörfern Weltkriegs-Tagebucheinträge finden.
Die Anreicherung mit Metadaten bringt der Forschung am meisten, ist aber für die Freiwilligen relativ anstrengend. „Die Geisteswissenschaften haben es daher deutlich schwerer, eine Community aufzubauen“, sagt René Smolarski, der an der Universität Erfurt im Bereich Digital Humanities forscht. Vor Kurzem hat er mit Kristin Oswald den Sammelband „Bürger Künste Wissenschaft“ herausgegeben. Obwohl die Naturwissenschaften deutlichen Vorsprung haben, hält er eine stärkere Hinwendung der Geisteswissenschaften zu Citizen Science-Ansätzen für unabdingbar. „Es würde den Geisteswissenschaften dabei helfen, mit ihrer Forschung öffentlich sichtbarer zu werden.“ Wichtig sei allerdings, die Laien nicht als billigen Klickarbeiter zu betrachten. „Wissenschaft und interessierte Öffentlichkeit sollten sich auf Augenhöhe begegnen.“ Dazu gehöre auch, Daten und Forschungsergebnisse aus Bürgerwissenschaftsprojekten offenzulegen. „Citizen Science geht für mich nur zusammen mit Open Data und Open Science.“
Die Offenlegung ist allerdings an deutschen Universitäten immer noch keine Selbstverständlichkeit. Und so haben Citizen Science-Projekte immer wieder mit dem Vorwurf zu kämpfen, hier würden die ehrenamtlichen Helfer schlicht ausgenutzt – während Ruhm, Ehre und Forschungsgelder am Ende nur bei den Institutionen hängen blieben. Bei Transcribathon bestehe diese Gefahr aber nicht, betont Frank Drauschke. „Es gibt ja keinen Auftraggeber.“ Im Gegenteil: Es war die breite europäische Bevölkerung, die für das Onlinearchiv Europeana seit 2011 über 200 000 Weltkriegsdokumente gesammelt und ins Netz hochgeladen hat. Und nun ist es erneut die Crowd, die diesen „ungeschliffenen Diamanten“ durch Transkriptionen und Verschlagwortung weiter veredelt – unter freier Lizenz und für alle kostenlos zugänglich.
Astrid Herbold