Studie zu Cybermobbing: „Mobber fühlen sich im Internet stark“
Cybermobbing ist kein neues Phänomen – doch jetzt nehmen Forscher auch sozial Benachteiligte in den Blick. Wie stehen Berliner Jugendliche im Vergleich da?
Ein pummeliger 14-Jähriger mit Streifenhemd und Topfhaarschnitt bewegt eine Stange durch die Luft. Sie ist der Lichtschwert-Ersatz für Ghyslain Raza, der sich 2002 dabei filmte, wie er etwas tollpatschig die Jedi-Ritter aus seinem Lieblingsfilm „Star Wars“ nachahmt. Einige Monate später finden seine Mitschüler das Video und stellen es ohne sein Wissen online. Als „Star Wars Kid“ wird es zum viralen Hit mit über 900 Millionen Klicks. Unzählige hämische Kommentare sammeln sich an, darunter auch Aufforderungen zum Selbstmord. Raza wechselt zunächst die Schule und geht dann gar nicht mehr hin, schließlich begibt er sich in psychiatrische Behandlung.
„Star Wars Kid“ ist eines der ersten Beispiele für Cybermobbing. Am Donnerstag wurde an der Freien Universität eine neue Studie zu dem Thema vorgestellt. Das Projekt „Blurred Lives“ konzentriert sich auf Teenager, die sozioökonomisch benachteiligt sind, deren Eltern also einen geringen Bildungsgrad und ein niedriges Einkommen haben. Das macht das Projekt besonders – normalerweise werden in ähnlichen Studien bevorzugt Gymnasiasten befragt. An „Blurred Lives“ nahmen Jugendliche aus Deutschland, Nordirland, England, Italien und den Niederlanden teil, insgesamt 2687. Aus Berlin waren 414 Jugendliche der neunten und zehnten Klassen dabei. Herbert Scheithauer, Professor für Entwicklungspsychologie an der FU, leitete das Projekt.
Wie stehen die Berliner Jugendlichen im Vergleich da? 97 Prozent von ihnen besitzen ein Smartphone – und sie verbringen viel Zeit im Internet. 76 Prozent geben an, drei bis fünf Stunden täglich online zu sein, was etwa im europäischen Schnitt liegt. Die beliebtesten Apps bei den Jugendlichen sind YouTube, Whatsapp und Instagram, Facebook und Twitter werden hingegen kaum genutzt.
Im europäischen Vergleich gaben in Berlin erstaunlich viele Jugendliche an, bereits „unangenehme Erfahrungen“ im Internet gemacht zu haben, nämlich 37 Prozent. In den Niederlanden waren es nur elf Prozent, der europäische Schnitt liegt bei 25 Prozent. Auch die Frage, ob sie schon einmal selbst einer Person im Internet „Schaden zugefügt“ haben beantworten 22 Prozent mit „Ja“. Im Schnitt sind es elf Prozent, in den Niederlanden sogar nur zwei.
Es ist wichtig, viel über die Internetnutzung zu sprechen
Zu der Vorstellung der Studienergebnisse an der FU sind auch Schülerinnen und Schüler der Konrad-Wachsmann-Schule gekommen, eine integrierte Sekundarschule in Hellersdorf. Sie wundern sich nicht über die Ergebnisse in Berlin. „Ich frage mich eher, warum die Zahlen in den Niederlanden so niedrig sind“, sagt einer von ihnen.
Die Schüler sind sich der besonderen Gefahren des Cybermobbings bewusst. „Die Gemobbten wissen nichts über die Mobber“, sagt ein Schüler. Neben der Anonymität sei auch die zeitliche Unbegrenztheit ein Problem. „Wenn jemand in der Schule gemobbt wird und dann zuhause online geht, geht das weiter“, sagt einer der Schüler. „Mobber fühlen sich im Internet stark“, meint ein anderer. In der Schule könne man zur Schulsozialarbeit gehen, online gäbe es diese Option nicht. Um Cybermobbing entgegenzuwirken könnte auch die Beschränkung der Internetzeit durch die Eltern sinnvoll sein.
Die Schulsozialarbeiterin Sophie Stephan, die mit den Jugendlichen am Projekt zusammengearbeitet hat, sieht Cybermobbing als immer größeres Problem. Schüler würden etwa aus Klassenchats rausgeschmissen oder erleben online sexualisierte Gewalt. „Wir versuchen den Jugendlichen zu vermitteln, dass das Internet kein rechtsfreier Raum ist“, sagt Stephan. Gerade in Schulen mit sozial benachteiligten Kindern, deren Eltern oft nicht viele Ressourcen haben, sei es wichtig, viel über die Internetnutzung zu Hause zu sprechen.
Botschaft an die Lehrer: "Bitte nehmt Mobbing ernst"
Neben dem Online-Fragebogen haben die Jugendlichen in sogenannten Qualitätszirkeln Materialien zur Prävention von Cybermobbing erarbeitet. Für Herbert Scheithauer ist diese Methode das Interessante an der Studie. Die Jugendlichen würden hier selbst zu Co-Forschern. Sie haben Know-How, das Lehrkräften eventuell fehlt, etwa darüber, wie Snapchat funktioniert.
Eine der Gruppen der Konrad-Wachsmann-Schule hat eine Instagram-Story erarbeitet. Wie Werbung soll sie in der App auftauchen, um über Cyberbullying aufzuklären und auch eine Forumsfunktion haben, wo sich betroffenen Jugendliche austauschen können. Eine andere Gruppe hat eine Powerpoint-Präsentation für die Lehrer ihrer Schule erstellt. „Wir möchten, dass Lehrer verstehen, wie wichtig das Thema Mobbing ist. Wenn jemand einen Mobbingvorfall meldet, bitte nehmt ihn/sie ernst!“, endet die Präsentation.
Das ist grundsätzlich die wichtigste Nachricht der Schüler: Reden, Zuhören und Sorgen ernstnehmen. Die erarbeiteten Materialien sind bald frei für alle zugänglich. Auf der Webseite des Projekts werden sie im Laufe des Augusts zum Download bereitgestellt.