Mobbing im Internet: „Opfern darf nicht die Schuld gegeben werden“
Cybermobbing gehört mittlerweile zur Alltagswelt von Schülern. Was Schulen, Eltern und Betroffene tun können. Ein Gespräch.
Herr Retzlaff, welche Bedeutung hat Cybermobbing in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen?
Kinder und Jugendliche wachsen in einer Zeit eines enorm dynamischen medialen und technologischen Wandels auf. WhatsApp, Snapchat, Instagram und Facebook sind ihre medialen Lebensräume zur Kommunikation, zum sozialen Austausch und zur Selbstdarstellung – mit allen Chancen, aber auch Risiken. Konflikte und Mobbing im Internet sind zum festen Bestandteil ihrer Alltagswelt geworden und somit zu einer neuen pädagogischen Herausforderung.
Was sind die Unterschiede zwischen Mobbing und Cybermobbing?
Mobbing unter Kindern und Jugendlichen hat es schon immer gegeben. Im Internet hat es einen neuen Tatort gefunden. Cybermobbing beschränkt sich nicht auf die große Pause oder den Schulweg, sondern findet rund um die Uhr statt. Das Opfer hat keine Chance zu entkommen, auch nicht im eigenen Kinderzimmer.
Verletzende oder menschenverachtende Inhalte werden von einem unüberschaubaren Publikum einsehbar, Inhalte verbreiten sich weltweit extrem schnell. Was früher durch einen Umzug oder einen Schulwechsel verbessert werden konnte, das funktioniert in der digitalen Welt nicht mehr.
Wie sollte auf diese Herausforderung reagiert werden?
Nach meiner Erfahrung ist es erfolgversprechend, wenn alle am Schulleben beteiligten Personen, also Lehrkräfte, Sozialarbeiter, Eltern und Schüler gleichberechtigt und gemeinsam Maßnahmen der Prävention und Intervention entwickeln. Das Pingpongspiel zwischen Elternhaus und Schule – die jeweils andere Partei ist dafür zuständig – ist es dagegen sicherlich nicht.
Welche Aufgabe hat dabei die Schule?
Die Schule muss Medienbildung als verbindliche Aufgabe begreifen und konsequent wahrnehmen. Schulen müssen Präventions- und Interventionsmaßnahmen im System der Schule fest verankern, zum Beispiel in der Klassen- und Schulordnung und im Notfallordner.
Praktisch bedeutet das, dass das Kollegium sich mit dem Thema auseinandersetzt, dass Lehrkräfte Fortbildungen besuchen, dass sie eine Interventionsgruppe einrichten, zu der die Schulleitung, Lehrer, Schüler- und Elternvertreter gehören. Sie sollen eine verbindliche Schrittfolge und Maßnahmen erarbeiten, Ansprechpartner für die Opfer und Täter benennen, Schüler als Medienscouts einbeziehen.
Opfer müssen ernst genommen werden, es darf ihnen nicht die Schuld gegeben werden. Das Interventionsteam sollte die Opfer unterstützen, die diffamierenden Inhalte zu dokumentieren, indem sie Screenshots anfertigen. In massiven Fällen sollten die Eltern der Opfer unterstützt werden, Strafanzeige gegen die Täter und den Betreiber der Seite zu erstatten.
In schwerwiegenden Fällen ist unbedingt die Schulpsychologie miteinzubeziehen. Wichtig ist es auch, zeitnah das Gespräch mit den Tätern, deren Eltern sowie der Klasse zu suchen. Wird Cybermobbing erst einmal thematisiert, so zeigen die Erfahrungen, dass die Attacken danach oftmals schon aufhören.
Was können Eltern tun, um ihre Kinder zu unterstützen?
Grundsätzlich sollten sie gemeinsam und regelmäßig mit ihren Kindern die Herausforderungen in der Mediengesellschaft besprechen. Eltern sollten sich für die digitalen Werkzeuge und die Lieblingsseiten ihres Kindes im Internet interessieren. Sie sollten über Chancen und Risiken im Internet, Erscheinungsformen von Cybermobbing und die Konsequenzen für Täter und Opfer sprechen und ihr Kind für die möglichen Konsequenzen der Weitergabe persönlicher Daten im Internet sensibilisieren. Eltern können auch Elternabende mit Experten zu Chancen und Risiken im Internet anregen.
Und wenn das eigene Kind betroffen ist?
Dann ist es ganz wichtig, das Kind emotional zu unterstützen und nicht übereilt mit einem Handy- oder Internetverbot zu reagieren und dem Kind nicht die Schuld zu geben. Man sollte das Kind ermutigen und außerdem Beweise sammeln, damit die Polizei tätig werden kann. Es sollte zeitnah Kontakt zur Schule aufgenommen werden, um gemeinsam nächste Schritte einzuleiten. Bei schwerwiegenden Fällen sollte die Schulpsychologie einbezogen werden. Es ist aber auch wichtig, das Kind aufzufordern, nicht in gleicher Weise im Internet zu handeln.
Welche Tipps können Sie den Kindern und Jugendlichen geben?
Kinder und Jugendlich haben altersgemäß auch eine Verantwortung für einen respektvollen Umgang allgemein und natürlich auch im Internet. Sie sollten sich daher zu einem fairen und respektvollen Miteinander in der Schule wie auch im Internet verpflichten. Diese Selbstverpflichtungserklärung sollte gemeinsam mit den Lehrern entwickelt und in die Klassen- und Schulordnung aufgenommen werden. Wenn das Kind selbst Opfer geworden ist, sollte es umgehend mit einem Freund oder einer Freundin, den Eltern oder einer anderen Vertrauensperson über den Vorfall sprechen, damit sie Unterstützung bekommen und sich gezielt zur Wehr setzen können.
Was tun, wenn Schulen abwiegeln?
Eltern haben ein Recht, über Schwierigkeiten ihres Kindes in den Dialog mit der Schule zu treten. Zu Beginn muss die tatsächliche Faktenlage ermittelt werden. Ansprechpartner ist zuerst einmal der Klassenlehrer. Möglicherweise kann ein schwerwiegender Vorfall auch Anlass für einen Themenelternabend sein. Elternsprecher sollten möglicherweise auch einbezogen werden.
Was ist Ihr persönlicher Wunsch als Experte im Bereich Cybermobbing?
Die Bereiche Erziehung, Bildung sowie Kinder- und Jugendschutz müssen sich mit dem digitalen Wandel umfangreich und konsequent verändern. Wir brauchen ein innovatives, flächendeckendes Präventions- und Interventionsprogramm. Zugleich muss es das Ziel sein, Schüler zu bestärken, sich für die Einhaltung eines respektvollen Umgangs aktiv einzusetzen. Schon bei Anzeichen von Ausgrenzung und Gewalt sollten Lehrkräfte bewusst einschreiten und die Zuschauerrolle verlassen. Für junge Menschen ist es oft ein Schlüsselerlebnis, wenn sie erleben, dass sie selbst einzeln und gemeinsam mit anderen ihr Schulklima entscheidend positiv beeinflussen und mitgestalten können.
Wie reagiert der neue Rahmenlehrplan auf diese neue pädagogische Herausforderung?
In der Präventionsarbeit gegen Cybermobbing nimmt das Basiscurriculum Medienbildung im neuen Rahmenlehrplan für die Jahrgangsstufen 1 bis 10 in Berlin und Brandenburg eine bedeutsame Rolle ein. Im Kompetenzbereich Reflektieren ist es das etwa das Ziel, die Einflüsse von Medienangeboten im Alltag hinsichtlich der Gefahren von Süchten und Cybermobbing zu reflektieren.
Michael Retzlaff, 66, ist Medienpädagoge und war langjähriger Leiter des Referats Medienbildung beim Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (Lisum).
Sylvia Vogt