Neurowissenschaft: Mitgefühl ist nicht farbenblind
Doch wer "wir" und "die anderen" sind, wird immer wieder neu definiert. Mitgefühl könne man außerdem trainieren, sagen Forscher. Ein Kommentar.
Eine lange Nadel steuert unaufhaltsam auf die schmerzempfindliche Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger zu. Sie wissen nicht, wer da in Gefahr ist. Der Film zeigt nur eine anonyme Hand und ein Stück Arm. Trotzdem zucken Sie aller Wahrscheinlichkeit nach zusammen, wenn die Nadel die Hautschichten durchdringt. Mit gutem Grund. Im Hirnscanner sehen Forscher, dass dann eben jene Neuronen zu feuern beginnen, die auch den eigenen Schmerz melden würden. Auf der Haut bildet sich etwas Schweiß, so dass sich deren elektrische Leitfähigkeit erhöht – eine weitere objektiv messbare Reaktion. Die Probanden fühlen mit, zeigte der Neurowissenschaftler Alessio Avenanti von der Universität Bologna. Aber es gibt einen Haken: Weiße Versuchsteilnehmer reagierten nur so, wenn eine weiße Hand zu sehen war. Und schwarze Probanden auf die Verletzung einer schwarzen Hand. Empathie ist nicht farbenblind.
Dass sie längst nicht allen gilt, zeigen auch Experimente mit dem „Kuschelhormon“ Oxytocin. Der Beiname kommt nicht von ungefähr. Das Hormon löst bei einer Schwangeren die Wehen aus und stärkt die Bindung von Mutter und Kind sowie zwischen Partnern. Wie ausgeprägt diese Wirkung ist, kann man im Tierreich beobachten: Präriewühlmäuse, die von Natur aus im Belohnungssystem des Gehirns viele Bindungsstellen für Oxytocin haben, formen lebenslange, monogame Partnerschaften – und die Männchen sind fürsorgliche Väter. Ihre Verwandten, die Wiesenwühlmäuse, sind das Gegenteil. Das Verhalten lässt sich sogar manipulieren, auch bei anderen Mäusen und Ratten.
Oxytocin verstärkte die Bindung zu den Landsmännern
Angesichts solcher Ergebnisse hatte Oxytocin lange einen makellosen Ruf. Selbst jenseits der Familie fördere es Vertrauen, Kooperation, Großzügigkeit und Treue, belegten Versuche mit menschlichen Teilnehmern. Ein bisschen Nasenspray und alles wird gut. Wirklich alles?
Carsten de Dreu von der Universität Amsterdam hatte Zweifel. Er gab 280 Freiwilligen entweder das Nasenspray mit Oxytocin oder mit einem Placebo – und eine theoretische Aufgabe. Sie sollten einen Menschen opfern, um vier andere zu retten. Der Einzelne hatte entweder einen niederländischen oder einen arabisch klingenden Namen. Das Ergebnis: Unter dem Einfluss von Oxytocin spielte der Name eine noch größere Rolle als sonst. Das „Kuschelhormon“ hatte die Probanden zwar nicht zu Rassisten gemacht. Aber es diente nur dem Schutz der Landsmänner, in Abgrenzung von „den anderen“.
Man könnte sich nun zurücklehnen und sagen: Unsere Fähigkeit, Empathie zu empfinden, ist eben von Natur aus begrenzt. Für Vorurteile können wir nichts. Ausländerfeindlichkeit? Eine normale Reaktion. Aber das ist ein Fehlschluss. Avenantis Experiment mit der Nadel hat einen dritten Teil. Er zeigte seinen Probanden zusätzlich, wie eine leuchtend lila gefärbte Hand gestochen wurde. Alle fühlten diesen Schmerz mit. Wer „wir“ und wer „die anderen“ sind, steht also nicht fest. Es wird vielmehr tagtäglich eingeübt.
"Wir wissen, wozu es führt, Menschen als fremd zu etikettieren"
Angesichts der Flüchtlingstrecks entlang von Landstraßen und Autobahnen fühlten sich etliche ältere Deutsche an die eigene Zeit als Flüchtlingskind nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Ein solches Gefühl der Verbundenheit ist stärker und nachhaltiger als jeder rationale Appell, eine reiche Nation müsse Verantwortung übernehmen. Es beinhaltet außerdem eine Zukunftsperspektive. Schließlich haben sich die Flüchtlinge von einst ein neues Leben aufgebaut – auch wenn sie nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen wurden. Ein weiterer Blick in die Geschichte: Statt unsere Erinnerungskultur auf die Formel „Nie wieder Auschwitz!“ zu bringen, sollten wir den Satz lieber variieren, schrieb kürzlich die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. „Nie wieder ein solcher Mangel an Mitgefühl gegenüber Menschen, die am Nullpunkt ihrer Existenz angekommen sind und auf unsere Unterstützung hoffen. Weil wir genau wissen, wozu es führt, Menschen als fremd zu etikettieren.“
Mitgefühl lässt sich trainieren, betont die Hirnforscherin Tania Singer vom Max-Planck-Institut für kognitive Neurowissenschaften in Leipzig. Nicht indem man den Schmerz der anderen nachempfinde – dann wäre man schnell am Ende seiner Kräfte. Vielmehr gehe es um ein Gefühl des Wohlwollens. So schwer es einem manchmal falle.
Jana Schlütter