Psychologie: Die Macht des Mitgefühls
Wenn andere Menschen sich wehtun, leiden wir mit. Hirnforscher untersuchen, warum das so ist. Doch auf der Suche nach der Macht des Mitgefühls entdecken sie auch dessen dunkle Seite.
Am 20. August betritt ein junger Mann eine Grundschule ein paar Kilometer östlich von Atlanta im US-Bundesstaat Georgia. Er ist schon mehrmals mit der Polizei aneinandergeraten. Ein paar Monate zuvor ist er verurteilt worden, weil er gedroht hat, seinen Bruder umzubringen. Er trägt ein Sturmgewehr und 500 Schuss Munition.
Im Sekretariat trifft der Bewaffnete auf die Buchhalterin Antoinette Tuff. Während Lehrer verzweifelt versuchen, mehr als 800 Kinder in Sicherheit zu bringen und Polizisten das Gebäude umstellen, erzählt Tuff dem Eindringling von ihrem eigenen Leben, dem Scheitern ihrer Ehe nach 26 Jahren, ihrem Selbstmordversuch – und sie bringt ihm Mitgefühl entgegen. „Wir machen alle was durch im Leben“, sagt sie. „Aber schau mich an, ich arbeite immer noch und alles ist okay.“ Tuff überzeugt den Eindringling, seine Waffe niederzulegen und sich zu ergeben. „Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe, okay?“, sagt sie gegen Ende des Gesprächs. „Ich bin stolz auf dich.“
Tuffs mutiger Einsatz diesen Sommer, von der Notrufzentrale in voller Länge aufgezeichnet, verhinderte womöglich ein Blutbad. Für viele Kommentatoren war es ein weiterer Beweis für die Macht von Mitgefühl. Doch woher kommt diese Macht? Wie entsteht Mitgefühl? Und lässt es sich trainieren?
Die Hirnforscherin Tania Singer, Direktorin am Max-Planck-Institut für kognitive Neurowissenschaften in Leipzig, untersucht diese Fragen in einer großen Studien, dem ReSource-Projekt. Mithilfe von 17 Meditationslehrern und 160 Teilnehmern, die neun Monate lang, sechs Tage die Woche meditieren, erforscht sie, ob sich emotionale Fähigkeiten wie Mitgefühl trainieren lassen. Sollte das der Fall sein, könnten solche Programme in Schulen und Kliniken Einzug halten, sagt sie.
An einem Tag im Herbst sitzt Singer barfuß an einem niedrigen Tisch auf dem Boden einer Wohnung in Berlin-Mitte. Die Wohnung gehört einem Freund, dem Künstler Olafur Eliasson, an der Decke hängen seine Lampen, riesige Moleküle aus Holz und Glas und Licht. „Wir wollen die Welt verändern“, sagt Singer.
Lange wussten Hirnforscher kaum etwas darüber, was passiert, wenn zwei Menschen sich begegnen. Wissenschaftler untersuchten, was im Gehirn passiert, wenn ein Mensch denkt oder fühlt, aber nicht, wie ein Mensch fühlt, was jemand anders denkt oder fühlt. Die Interaktion mehrerer Menschen mithilfe eines Hirnscanners zu untersuchen, schien schlicht zu schwierig. „Viele Kollegen haben mir gesagt: Vergiss es. Du wirst so nichts finden.“
Doch Singer fand sehr wohl etwas. 2003 holte sie Liebespaare ins Labor. Während die Frau in einem Hirnscanner lag, saß ihr Partner daneben. Erhielt die Frau einen Stromschlag an der Hand, so leuchteten in ihrem Gehirn Areale auf, die mit der Verarbeitung und Empfindung von Schmerz zu tun haben, etwa der sensorische Kortex und die Insula. Doch überraschenderweise wurden Teile dieses Netzwerks auch aktiv, wenn der Partner den Stromschlag erhielt. Nicht die Bereiche, die einem sagen, du spürst einen stechenden Schmerz in deiner linken Hand, sagt Singer, sondern die „Endnote“ von Schmerz, das Gefühl „Aua, das tut weh“. Diese überlappende Aktivierung ist die Grundlage für Empathie, glaubt Singer.
Sie ist nicht die Einzige. In den 90er Jahren entdeckten Forscher in Affen Spiegelneuronen, Zellen in der Motorrinde des Gehirns, die feuerten, wenn der Affe nach etwas griff, aber auch, wenn er beobachtete, wie ein Mensch oder ein anderer Affe nach etwas griff. Es ist als würde das Affengehirn die Bewegung des anderen Affen entschlüsseln, indem es sie in Gedanken nachvollzieht.
Inzwischen sei klar, dass diese Spiegelung ein grundlegendes Prinzip sei, sagt Christian Keysers, Forscher am Niederländischen Institut für Neurowissenschaften in Amsterdam. Beobachten Menschen Ekel, Schmerz oder Freude in anderen Menschen, so aktiviert das Hirnareale, die auch aktiv werden, wenn ein Mensch diese Emotionen selbst empfindet. Wir wissen also nicht nur, dass jemand anders Schmerzen spürt, wir fühlen es tatsächlich. „Das Gehirn ist keine abstrakte Informationsverarbeitungsmaschine, die andere Menschen genauso behandelt wie Autos oder Drucker“, sagt Keysers.
Die Studien bringen neue Aufmerksamkeit für eine alte Idee: Dass die Welt mehr Liebe benötigt, oder zumindest mehr Mitgefühl. Der Autor Jeremy Rifkin etwa argumentiert in seinem Buch „Die empathische Zivilisation“, die Menschheit müsse ein „globales empathisches Bewusstsein“ entwickeln, um den eigenen Untergang zu verhindern. Und US-Präsident Barack Obama hat mehrfach zu mehr Empathie aufgerufen. So sagte er 2011 in einer Rede vor Uni-Absolventen: „Wenn Sie sich entscheiden, (...) mit dem Schicksal anderer mitzufühlen, ob sie enge Freunde sind oder Fremde, dann wird es schwerer nichts zu tun, schwerer nicht zu helfen.“ Zynischer ausgedrückt: Wir helfen Menschen nicht, um ihren Schmerz zu lindern, sondern unseren eigenen Schmerz. Je stärker wir ihren Schmerz spüren, umso wahrscheinlicher ist es, dass wir ihnen helfen. Oder ihnen kein Leid zufügen.
1974 strangulierte Johann Unterweger die 18-jährige Margaret Schäfer mit ihrem eigenen BH. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Gefängnis begann Unterweger zu schreiben, er schien geläutert. Seine Autobiografie „Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus“ wurde gefeiert und Literaten wie Elfriede Jelinek und Günter Grass setzten sich für seine Begnadigung ein. Unterweger hatte ein Talent, Menschen auf seine Seite zu ziehen. 1990 wurde er begnadigt. Vier Jahre später stand er erneut vor Gericht. Er hatte nach seiner Freilassung neun weitere Frauen ermordet.
Wie ist es möglich, dass ein Mensch, der so ein feines Gespür für seine Mitmenschen hat und sie so erfolgreich manipulieren kann, kein Mitgefühl empfindet, das ihn von seinen grausamen Taten abhält? Wo ist hier die Macht des Mitgefühls? Keysers erforscht Empathie auch von dieser anderen, dunklen Seite.
In einer Studie, die dieses Jahr im Fachblatt „Brain“ erschienen ist, hat er 21 verurteilte Psychopathen untersucht und mit anderen Menschen verglichen. Er zeigte den Testpersonen Videos, in denen zum Beispiel eine Hand eine andere Hand streichelt oder einen Finger greift und umknickt. Im Gehirn der Kontrollpersonen spiegelte sich wider, was in einer Person passiert, die Zuneigung oder Schmerz empfindet, bei den Psychopathen tat sich im Gehirn dagegen wenig. Dieser Unterschied verschwand aber, wenn die Testpersonen aufgefordert wurden, mit den Videos „mitzufühlen“. Keysers Schlussfolgerung: Auch Psychopathen haben die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen, aber sie setzen sie offenbar nur dann ein, wenn es ihnen nützt.
Möglicherweise hätten sich evolutionär zwei verschiedene Strategien durchgesetzt, sagt Keysers: auf der einen Seite Menschen, bei denen Empathie ständig eingeschaltet ist und die deshalb besonders gut mit anderen Menschen zusammenarbeiten, und auf der anderen Seite Menschen, die Empathie nur dann einschalten, wenn es ihnen in den Kram passt. „Der Psychopath ist dafür vielleicht ein Prototyp.“
In jedem Fall hat die Evolution ein anderes, unschönes Muster hinterlassen: Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Menschen den Mitmenschen am meisten Empathie entgegenbringen, die ihnen am ähnlichsten sind. Chinesen fühlen den Schmerz anderer Chinesen stärker als den von Europäern. Weiße Menschen zeigen stärkere Hirnaktivität, wenn sie die Bewegung eines anderen Weißen sehen als die eines Schwarzen. Ähnliches lässt sich sogar bei Ratten beobachten. Mitgefühl ist nicht grenzenlos – und leider auch nicht farbenblind.
Evolutionär sei das durchaus verständlich, sagt Keysers. „Man würde erwarten, dass Empathie am stärksten ist für Verwandte und Mitglieder der gleichen Gruppe, weil bei denen die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist, dass sie sich revanchieren.“
Korruption und Vetternwirtschaft seien letztlich eine Folge dieses ungleichen Mitgefühls, sagt der Harvard-Psychologe Steven Pinker. „Wir fühlen von Natur aus mehr mit unseren Freunden und unseren Verwandten mit als mit Fremden, und alles Training der Welt wird diesen Unterschied nicht auslöschen.“ Mehr Empathie führe deshalb nicht unbedingt zu einer gerechteren Welt, sagt Pinker. „Diese Empathiebegeisterung basiert auf der 60er-Jahre-Vorstellung, dass Menschen nur aufhören, sich gegenseitig umzubringen, wenn sie sich lieben oder wenigstens Empathie und Mitgefühl für einander haben. Ehrlich gesagt habe ich kein Mitgefühl für jeden Einzelnen der zwei Milliarden Inder und Chinesen – wer hat dafür die Zeit oder die Energie?“ Gute Gesetze und ein starkes Eintreten für die Menschenrechte seien wichtiger als Empathie.
Auch Singer ist überzeugt, dass zu viel Empathie schlecht sein kann. Ärzte oder Seelsorger etwa litten häufig darunter, wenn sie keine Distanz zu Patienten hätten. Wenn Singer heute über „Mitgefühl“ spricht, meint sie etwas anderes als Empathie oder das Teilen von Schmerz oder Freude. Vor einigen Jahren bat sie den buddhistischen Mönch Mathieu Ricard, im Hirnscanner zu meditieren. Doch statt der Hirnregionen, die sie immer wieder hatte aufleuchten sehen, wenn Testpersonen sich in den Schmerz eines anderen einfühlten, sah sie Aktivität in einem Bereich, der zum Beispiel aktiv wird, wenn eine Mutter Fotos ihrer eigenen Kinder sieht.
Er habe sich auf ein warmes Gefühl des Wohlwollens gegenüber der Welt konzentriert, erklärte Ricard. Als er sich noch einmal in den Scanner begab und sich auf das Leid rumänischer Waisenkinder konzentrierte, die er in einer Dokumentation gesehen hatte, zeigte sein Gehirn die typische Signatur für Empathie. Der Schmerz sei aber schnell unerträglich geworden, sagte Ricard später: „Ich fühlte mich emotional erschöpft, sehr ähnlich dem Gefühl des Ausgebranntseins.“
Für Singer war es ein Schlüsselerlebnis. „Ich dachte, wir müssten alle empathischer sein und dann wäre die Welt ein besserer Ort“, sagt sie. „Aber Ricard hat mir beigebracht, dass Mitgefühl etwas ganz anderes ist als Empathie.“ Ricards Zustand von Wohlwollen nutze offenbar ein ganz anderes Netzwerk im Gehirn, eines das mit Fürsorge zusammenhänge. Singer hofft, dass dieser Zustand von Mitgefühl sich trainieren lässt ohne die Probleme, die Empathie mit sich bringt. Im September hat sie mit Eliasson zusammen ein E-Book vorgestellt: „Mitgefühl: In Alltag und Forschung“. Das Buch, das gratis heruntergeladen werden kann, beschreibt auf mehr als 900 Seiten, wie Wissenschaftler und Meditierende Mitgefühl sehen und es kultivieren wollen. Singer hofft damit auch Vorurteile zu widerlegen. Mitgefühl sei nicht sanft und süß, keine „nasse Nudel“, sagt sie.
Von ihrem Küchenfenster aus blickt Singer auf die Sophienkirche. Eine Gedenktafel erinnert an den September 1964, als Martin Luther King hier predigte. Der Bürgerrechtler hatte sich gegen die Mitarbeiter der US-Botschaft durchgesetzt, die ihm sogar seinen Ausweis abgenommen hatten, um den Besuch in Ost-Berlin zu verhindern. King zeigte am Checkpoint Charlie einfach seine Kreditkarte vor. „Auf beiden Seiten der Mauer leben Gottes Kinder“, sagte er später in der Kirche. „Keine durch Menschenhand gemachte Grenze kann diese Tatsache auslöschen.“
Menschen wie King verkörperten, was Mitgefühl wirklich ist, sagt Singer. „Mitgefühl ist mutig. Mitgefühl ist hart.“ Singer spricht auf Englisch. „Compassion is tough“, sagt sie. Es klingt, als würde sie über eine junge Frau sprechen, an einer Schule ein paar Kilometer östlich von Atlanta.
Für ihre Studie sucht Tania Singer noch Teilnehmer in Leipzig und Berlin.
Kai Kupferschmidt
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