Abiturienten: Mehr Schüler fallen bundesweit durchs Abitur
Der Anteil der Schülerinnen und Schüler in Deutschland, die das Abitur nicht bestehen, steigt stetig. Gleichzeitig gibt es auch immer mehr Einser-Abiturienten.
Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die durch das Abitur fallen, steigt: Das geht aus der Statistik der Kultusministerkonferenz (KMK) hervor, wie die Nachrichtenagentur dpa zuerst berichtete. Während im Abiturjahrgang 2009 demnach bundesweit noch 2,39 Prozent der Schüler durchfielen, waren es im Jahr 2017 schon 3,78 Prozent (nach 3,43 Prozent im Jahr 2016 und 3,17 Prozent im Jahr 2015).
Besonders hoch ist Quote in Mecklenburg-Vorpommern, wo 2017 etwa jeder 14. Abiturprüfling scheiterte. In Berlin fielen sechs Prozent der Schüler durch, auch dieser Wert ist überdurchschnittlich.
In Berlin liegt die Quote noch höher
Schon in den Jahren zuvor scheiterte in Berlin immer ein höherer Anteil als im bundesdeutschen Schnitt. Allerdings bildet sich der bundesweite Trend zu einer höheren Durchfallerquote in Berlin nicht ab: Mal gingen die Zahlen hoch, mal runter; und schon 2009 lag der Wert beinahe bei dem von 2017. Die Bildungsverwaltung hatte als mögliche Erklärung für den jüngsten Anstieg seit 2015 darauf hingewiesen, dass jetzt auch Schüler erfasst werden, die auf Grund einer Nichtzulassung zur Prüfung nicht bestanden haben. Sie wurden früher nicht mitgezählt.
Besonders gering war der Anteil der Durchgefallenen 2017 in Thüringen (2,1 Prozent) sowie Rheinland-Pfalz und im Saarland (je 2,5 Prozent) – alles Länder, die zwar auch schön früher unter dem Schnitt lagen, aber ebenfalls leicht zulegten.
Neue Wege fürs Gymnasium gefordert
Was können die Ursachen für den Befund sein? Liegt es daran, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler das Abitur anstreben und damit auch ein größerer Teil den Anforderungen nicht gewachsen ist? Dass in einigen Bundesländern über 50 Prozent eines Altersjahrgangs das Gymnasium besuchen, „führt zu heterogenen Lerngruppen, in denen die Lernstände auseinandergehen“, sagt Ilka Hoffmann vom Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Eine Schulform, die für so viele Eltern und Schüler attraktiv ist, ist aber dafür verantwortlich, dass möglichst alle das Abitur ablegen können.“
Dafür müsse auch das Gymnasium neue pädagogische Wege gehen, anstatt Schüler vorzeitig abzuschulen oder durchfallen zu lassen. Die GEW fordert deshalb eine flexible Oberstufe ab Klasse 11, „die man in zwei, drei oder vier Jahren durchlaufen kann“, sagt Hoffmann. So könnten „unterschiedliche Lerntypen berücksichtigt und insbesondere soziale Unterschiede aufgefangen werden“.
Mit Blick auf die Noten scheint das Abitur jedenfalls nicht anspruchsvoller geworden zu sein. In vielen Ländern verbesserte sich der Schnitt. So liegt er in Berlin seit 2010 bei 2,4. Doch davor lag er jahrelang stabil bei 2,7. Einen besseren Schnitt erreichten im Lauf der Jahre auch die Abiturienten in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Thüringen.
Fast jeder Vierte hat ein Einser-Abi
Als Grund für die Veränderung in Berlin wird seit Jahren die Einführung des Zentralabiturs im Jahr 2010 genannt. Dabei wurden die Anforderungen auf ein mittleres Niveau angepasst, so dass starke Schülerinnen und Schüler nun bessere Ergebnisse erzielen. Außerdem punkten Berliner Abiturienten besonders bei der Präsentationsprüfung. Dabei halten sie ein Referat, das sie gründlich vorbereiten. Der dritte Grund: Berlin hat sich im Jahr 2010 an die großzügigeren Notenskalen anderer Länder angepasst, wie sie bereits etwa in Bayern und Baden-Württemberg galten: Bis dahin mussten Berliner Schüler 50 Prozent der Aufgaben richtig lösen, um eine glatte Vier zu bekommen, seitdem reichen 45 Prozent. Für eine Eins plus müssen nicht mehr 100 Prozent richtig gelöst werden, es reichen 95 Prozent.
Gegen allgemein schärfere Anforderungen spricht auch die Entwicklung bei der Bestnote 1,0. Fast jeder vierte Abiturient in Deutschland hatte 2017 eine Eins vor dem Komma. Im Jahr 2009 war es erst jeder fünfte. Die Kluft – mehr fallen durch, aber mehr bekommen auch die Bestnote – erklärt Udo Beckmann, der Vorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung mit der Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom Elternhaus. Bei der einen Gruppe könnten die Eltern die notwendige Förderung und Unterstützung privat organisieren, die anderen fielen „durchs Rost“.
Philologenverband: Abitur fehlerhaft konzipiert
Die Vorsitzende des Philologenverbands, Susanne Lin-Klinzing sieht „die steigende Drop out-Quote“ wie die GEW-Vertreterin in einem Zusammenhang mit der höheren Übergangsquote auf das Gymnasium. Lin-Klitzing kommt aber zu völlig anderen Schlüssen. Sie fordert die Rückkehr zu verbindlichen Grundschulempfehlungen, aus denen hervorgeht, ob ein Kind die Leistungsvoraussetzungen für das Gymnasium mitbringt. Es müsse eine Notengrenze geben, an der die Wahlfreiheit der Schulart aufhört.
An den weiterführenden Schulen müssten die Leistungen vor dem Übergang auf die Mittel- und die Oberstufe an „normativen Mindeststandards“ überprüft werden. Werden diese nicht erreicht, müssten die Schüler entweder die Klasse wiederholen, eine andere Schulform besuchen oder mit dem Mittleren Schulabschluss in eine Berufsausbildung gehen. Eine „klare und transparente Leistungsforderung und Rückmeldung“ müsse es aber auch in der Oberstufe geben.
Das Abitur sei fehlerhaft konzipiert. „Im Abitur zeigt sich die Frucht von kontinuierlichem Lernen und kontinuierlichem Leisten – im Positiven wie im Negativen“, sagte Lin-Klitzing. In der Unter- und Mittelstufe könnten Schüler schlechte Leistungen in einem Fach durch gute in einem anderen Fach ausbügeln. „Nur am Schluss, im Abitur, müssen Mathe, Deutsch und eine Fremdsprache verbindlich bestanden werden, da hilft kein Ausgleich mehr“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin, deren Verband die Gymnasiallehrer vertritt.
Die KMK will das Abi auf "hohem Niveau" halten
Insgesamt sei beim Weg zum Abitur eine „frühere Rückmeldung“ sinnvoll, sagt Lin-Klitzing. Schüler bräuchten Gelegenheiten, „um zu überlegen, was sie mit ihrem Leben wollen: Reiße ich mich jetzt zusammen für das schulische Lernen oder suche ich mir einen anderen Weg?“ Die Zeit in der Oberstufe wie von der GEW vorgeschlagen zu verlängern, damit Kurse wiederholt werden können, lehnt Lin-Klitzing ab: „Das hieße, die Phase des Ausgleichs zu verlängern.“
KMK-Präsident Alexander Lorz, Kultusminister in Hessen, teilt auf Anfrage mit, immer schon sei in Deutschland darüber diskutiert worden, ob das Abitur nun zu leicht oder zu schwer sei. „Am Ende hängt die Note jedoch von so vielen Einzelfaktoren ab, dass Rückschlüsse nur schwer möglich sind.“ Die KMK sehe sich dazu verpflichtet, „die Qualität des Abiturs auf einem hohen Niveau zu halten und mit den Bildungsstandards für die Allgemeine Hochschulreife“ zu einer größeren Vergleichbarkeit zu kommen.
Ein gemeinsamer Aufgabenpool
Seit 2017 muss das Abitur die seit 2014 geltenden Bildungsstandards für Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch abbilden. Dazu bedienen sich alle Länder auch aus einem gemeinsamen Aufgabenpool. Außerdem hat die KMK mit einem Beschluss von 2016 die Spannbreite der Gestaltungsmöglichkeiten der Länder, was die Wahl der Fächer in der Oberstufe betrifft, etwas reduziert. Das soll sich im Jahr 2021 erstmals vollständig auswirken. Die „eingeschränkte länderübergreifende Vergleichbarkeit“ des Abiturs war einer der Gründe, weshalb das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2016 die Mechanismen bei der Verteilung der Medizinstudienplätze für verfassungswidrig erklärt hatte.
Zu erwarten ist allerdings, dass viele Unterschiede beim Abitur bestehen bleiben werden – bis hin zu unterschiedlich hohen Durchfallerquoten -, in welche Richtung der Trend dabei auch geht. (mit dpa)