Medizinnobelpreis 2019 für Forschung an Sauerstoffregulierung: Mehr Luft für Zellen
Zellen spüren, wenn ihnen die Luft ausgeht. Wie sie dann gegensteuern, haben die Forscher William Kaelin, Gregg Semenza und Peter Ratcliffe entdeckt.
Beim nächsten Kurzurlaub in den Hochalpen wird man es wieder spüren: Am ersten Tag kommt die Atemnot und das Schnaufen bei 3000 Meter schon nach ein paar Schritten, am Urlaubsende hingegen fühlt man sich besser. Der Körper passt sich an die dünnere Höhenluft an und an die daraus resultierende Sauerstoffarmut im Blut.
Doch wie macht er das? Wie messen Zellen den Sauerstoffgehalt und schalten dann etwa jenen Prozess an, der zu mehr roten, also Sauerstoff transportierenden Blutkörperchen führt – und damit das übermäßige Schnaufen beim Bergwandern abstellt?
Diese Frage haben die diesjährigen Nobelpreispreisträger in gut dreißig Jahren Forschung beantwortet und dabei den grundlegenden Mechanismus entschlüsselt, wie praktisch alle Zellen des Menschen und auch anderer Tierarten Sauerstoffmangel wahrnehmen und darauf reagieren können: die US-Amerikaner Gregg Semenza von der Hopkins University und William Kaelin von der Harvard University sowie der Brite Peter Ratcliffe von der Oxford University (Porträts hier) teilen sich die wohl wichtigste Auszeichnung für medizinische Forscher zu gleichen Teilen und damit auch das Preisgeld von umgerechnet etwa 830.000 Euro (neun Millionen Schwedischen Kronen).
EPO steuert gegen die Atemnot am Berg - doch was steuert die EPO-Produktion?
„Ein Herz, ein weitverzweigter Blutkreislauf, rote Blutkörperchen – unser gesamter Organismus ist so aufgebaut, dass unsere Zellen immer mit ausreichend Sauerstoff versorgt werden“, sagt Kai-Uwe Eckardt. Der Nierenspezialist an der Berliner Charité weiß um die Folgen, wenn Krankheiten dieses System stören. So leiden Patienten mit schweren Nierenerkrankungen oft auch unter Blutarmut und den damit verbundenen Folgen wie Atemnot. Denn es sind die Nieren, die das Hormon produzieren, das die Bildung roter Blutkörperchen anregt: Erythropoetin, als „EPO“ abgekürzt und bekannt vom Betrügen beim Radsport als der Doping-Stoff für den langen Atem am Berg. Eigentlich unnötig, denn schließlich justiert der Körper die EPO-Produktion selbst.
Aber wie?
Dieser Frage gingen die drei Nobelpreisträger schon in den 1990er Jahren nach. Gregg Semenza blickte ins Erbgut von Mauszellen und entdeckte neben dem Gen, das die Bauanleitung für EPO enthält, DNA-Abschnitte, die wie Schalter funktionierten: Herrscht Sauerstoffarmut, werden sie betätigt und EPO wird gebildet. Ist genug Sauerstoff da, bleiben sie auf „Aus“.
Ein universeller, Sauerstoffmangel messender Mechanismus
Und welcher „Finger“ betätigt den Schalter? Bei der Suche danach fanden Semenza und Ratcliffe „HIF“, der „hypoxia-inducible factor – übersetzt in etwa ein auf Sauerstoffarmut reagierendes Klümpchen Proteine, das an den Erbgutfaden binden kann. Dieser „HIF-Finger“ kommt in den Zellen also nur dann in ausreichend großer Menge vor und kann den Schalter betätigen, wenn wenig Sauerstoff in der Zelle vorhanden ist.
Woher der HIF-Finger „wissen“ kann, wie der Sauerstoffpegel gerade ist? Dieses Puzzleteil steuerte der Krebsforscher William Kaelin bei. Sobald der Sauerstoffpegel steigt, verändert sich eines der Proteine im Finger (HIF-alpha-1), bekommt gewissermaßen einen Post-It-Zettel mit der Aufschrift „Müll“ angeheftet und wird entsorgt. Der HIF-Finger fällt auseinander und kann den EPO-Schalter nicht mehr bedienen.
Bald nach dieser Entdeckung stellte sich heraus, dass der HIF-Finger nicht nur in Nierenzellen existiert und nicht nur für das Einschalten des EPO–Gens genutzt wird, „sondern alle Zellen diesen grundlegenden Mechanismus verwenden, um auf Sauerstoffmangel oder -überschuss zu reagieren, indem sie bestimmte Gene ein- und andere abschalten“, sagt Eckardt.
Medikamente in der Testphase
In den vergangenen Jahren habe sich gezeigt, dass sich dieses Prinzip auch für neue Therapien nutzen lässt. „Es gibt bereits Medikamente, so genannte HIF-Stabilisatoren, die den Abbau von HIF hemmen und so einen Sauerstoffmangel imitieren können“, sagt Eckardt. „Dadurch steigert man etwa den EPO-Gehalt im Blut und kann die Blutarmut bei Nierenkranken korrigieren.“ In Europa und den USA seien diese Medikamente in der klinischen Testphase, aber noch nicht zugelassen, sagt Eckardt, „in China ist einer dieser HIF-Stabilisatoren, Roxadustat, hingegen vor einigen Monaten bereits zugelassen worden.“
Den gegenteiligen Effekt will man mit Substanzen erreichen, die den Abbau von HIF beschleunigen – etwa um das Wuchern von Tumoren zu bekämpfen. Denn Krebszellen nehmen gezielt Einfluss auf die Sauerstoffregulation, um sicherzustellen, dass sie sich weiter teilen können. So regen sie zum einen die Blutgefäßbildung an, um die Geschwulst an den Blutkreislauf anzuschließen, Zum anderen manipulieren sie den HIF-Finger oder Teile davon, um besser mit Sauerstoff versorgt zu werden. Solche Prozesse mit Medikamenten zu unterbinden, die den HIF-Finger destabilisieren, werde in der Krebstherapie gerade erprobt.
Im Impuls auch für die Frühchenforschung
Aber auch für den Neonatologen Christof Dame, der daran forscht, wie zu früh geborene Babys bessere und gesundere Überlebenschancen haben können, ist die heutige Nobelpreisvergabe ein „Festtag“. Wäre er beim Nobel-Viewing in der Charité dabei gewesen, er hätte laut gejubelt. „Vor und nach der Geburt muss der Sauerstoffsensor in den verschiedenen Geweben ganz unterschiedlich justiert sein“, sagt der Charité-Arzt. „Aber kommt ein Kind viele Wochen zu früh auf die Welt, dann werden die Sauerstoffsensoren völlig durcheinandergebracht.“ Sein Forschungsteam versuche daher zu verstehen, wie die Sauerstoffsensoren im Laufe der Entwicklung der Kinder in unterschiedlichen Organen eingestellt sein müssen, damit sich Gehirn, Auge und Lunge normal entwickeln können (Tagesspiegel-Projekt "390 Gramm" siehe hier).
Ein Beispiel für ein Zuviel an Sauerstoff zur falschen Zeit sei der Popstar und einstige Frühgeborene Stevie Wonder. Zu einem bestimmten Zeitpunkt war der sonst sehr hilfreiche Sauerstoff schädlich und führte zu überschüssigem Gefäßwachstum und einer Netzhautablösung. Auch daran sei der Sauerstoffsensor beteiligt. Die Hoffnung sei, das besser zu verstehen und regulieren zu können. Von der klinischen Anwendung sei man aber noch weit entfernt.
Dame sieht den „Nobelpreis für Physiologie und Medizin“ diesmal eher als Physiologie-Preis, weil man erst auf dem Weg in die medizinische Anwendung sei. Vor allem aber sei es ein „Auftrag“, das Wissen über diesen grundlegenden Mechanismus zu nutzen und zu ergründen, was das für Herzkreislauferkrankungen bedeutet, für die Tumorbiologie und viele andere Bereiche der Medizin. Denn es schlummere ein „sehr großes Potenzial“ für neue Therapien darin.