Studie zu Inklusion in der Schule: Mehr Behinderte lernen gemeinsam mit anderen Kindern
In den Schulen werden mehr und mehr Kinder mit und ohne Handicap gemeinsam unterrichtet, zeigt eine Studie. Aber weiterhin bleiben zu viele Kinder an Förderschulen unter sich. Berlin wird für Inklusionserfolge gelobt, steht aber im "Bildungsmonitor" insgesamt schlecht da.
In Deutschland besucht fast jedes dritte Kind mit Handicap eine allgemeinbildende Schule. Der Inklusionsanteil ist seit dem Schuljahr 2008/09 von 18,4 Prozent auf 31,4 Prozent im Schuljahr 2013/14 gestiegen. Nach diesen Zahlen aus einer am Donnerstag veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung haben sich Länder und Kommunen scheinbar entschlossen auf den Weg gemacht, der 2009 mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechskonvention eingeschlagen wurde. Deutschland verpflichtete sich damit, Schüler mit und ohne Behinderungen gemeinsam zu unterrichten – und sie nicht mehr in besonderen Förderschulen von den anderen Kindern und Jugendlichen zu trennen.
Doch gerade das ist nicht erreicht worden: Der Anteil der gesondert unterrichteten Schüler, die sogenannte Exklusionsquote, hat sich kaum verringert. Gegenüber der gesamten Schülerschaft lag sie 2008/09 bei 4,9 Prozent, fünf Jahre später bei immer noch 4,7 Prozent. Dass dennoch der Inklusionsanteil wächst, liegt an der steigenden Zahl von Kindern, bei denen ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert wird.
Je höher die Bildungsstufe, desto geringer die Inklusions-Chancen
„Ein steigender Inklusionsanteil ist nur dann ein Fortschritt, wenn parallel dazu die Exklusionsquote sinkt“, sagt der Essener Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm, Autor der Bertelsmann-Studie. Das Ziel der UN-Konvention sei schließlich, „die Zahl derjenigen zu senken, die außen vor bleiben“. Dies ist bislang insbesondere nicht für die weiterführenden Schulen erfüllt. „Je höher die Bildungsstufe, desto geringer sind die Chancen auf Inklusion“, heißt es in der Studie, für die Klemm Zahlen der Kultusministerkonferenz (KMK) aus den Bundesländern ausgewertet hat.
In den Kitas beträgt der Anteil der gemeinsam betreuten Kinder mit Beeinträchtigungen mittlerweile 67 Prozent – gegenüber 61,5 Prozent vor fünf Jahren. In der Grundschule sind es 46,9 Prozent (2008/09: 33,6 Prozent). In den weiterführenden Schulen fällt der Anteil dann auf 29,9 Prozent. Unter diesen Schulen der Sekundarstufe I gibt es dann bei der Einlösung des Inklusionsauftrags noch eine „beachtliche Arbeitsteilung“: Von den deutschlandweit gut 70000 Schülern der 5. bis 10. Klassen, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf haben, lernt nur jeder zehnte an Realschulen oder am Gymnasium. Von einem wirklich inklusiven Bildungssystem sei Deutschland deshalb noch weit entfernt, kritisiert die Bertelsmann-Stiftung.
Weiterführende Schulen wollen eine vorsortierte Schülerschaft
„Grundschulen haben größere Erfahrungen mit Inklusion. Die Erkenntnis, dass sie ohne Einbußen für die übrigen Schüler möglich ist, wächst erst langsam hoch“, sagt Klemm. Die weiterführenden Schulen und vor allem die Gymnasien hielten noch an ihrem alten Bild der nach Leistungsfähigkeit vorsortieren Schülerschaft fest. Doch auch das ändere sich allmählich, seitdem vielerorts die Hälfte eines Schülerjahrgangs das Abitur anstrebt.
Bundesweit gibt es allerdings große Unterschiede beim Inklusionsanteil – und bei der Exklusionsquote. Vor allem in den Stadtstaaten werden Kinder mit und ohne Handicap gemeinsam unterrichtet: In Bremen sind es 68,5 Prozent, in Hamburg 59,1 Prozent und in Berlin 54,5. In der Spitzengruppe liegt auch Schleswig-Holstein mit einem Inklusionsanteil von 60,5 Prozent. In Hessen und in Niedersachsen dagegen lernt jeweils weniger als ein Viertel der Förderschüler an Regelschulen. Das führende Bremen sticht auch mit einer niedrigen Exklusionsquote von nur 1,9 Prozent heraus, während der Anteil Kinder und Jugendlichen, die an Förderschulen unterrichtet werden, etwa in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt 6,8 Prozent aller Schüler beträgt.
Lob für Berlin, nur die Gymnasien sind inklusionsfeindlich
Berlin wird in der Studie für seine Inklusionsanstrengungen besonders gelobt. Der Inklusionsanteil an den Regelschulen stieg von 38,8 Prozent auf 54,5 Prozent (Stand 2013/14). Aktuell sind es Senatsangaben zufolge bereits 58,8 Prozent. Vorne liegen die Grundschulen mit einem Anteil von 64,1 Prozent. Aber auch in der Sekundarstufe ist die Quote mit 58 Prozent der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Regelschulen vergleichsweise hoch. Allerdings sind die Berliner Gymnasien besonders inklusionsfeindlich, hier beträgt die Quote lediglich drei Prozent. Der Schüleranteil an Förderschulen wiederum sank gegen den Bundestrend von 4,4 auf 3,4 Prozent.
Falsche Anreize, Förderbedarf zu attestieren?
Bundesweit aber steigt der Inklusionsanteil kontinuierlich, während der Anteil der Schüler auf den Förderschulen fast durchweg konstant bleibt. Die Studie erklärt das damit, dass bei immer mehr Kindern ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wird. Diese Quote stieg in den vergangenen fünf Jahren von sechs auf 6,8 Prozent – ebenfalls mit großen Schwankungen von Land zu Land. In Mecklenburg-Vorpommern sind es 10,8 Prozent, in Rheinland-Pfalz 5,4 Prozent. „Im Verlauf der Inklusionsdebatte wurden offenbar Kinder als förderbedürftig deklariert, die es vorher gar nicht waren“, sagt Klemm. Die Gründe dafür seien bislang nicht erforscht.
Vermutlich gebe es aber einen Zusammenhang mit der staatlichen Förderung: Unterrichtet eine Schule Inklusionskinder, bekommt sie mehr Lehrerstunden. „Dieser Anreiz könnte dazu führen, dass einzelne Schulen möglichst viele Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf diagnostizieren“, sagt Klemm. Zudem sei der Widerstand der Eltern gegen die Diagnosen geringer geworden, seitdem Kindern mit Lernschwierigkeiten seltener die „Sonderschule“ drohe.
An Förderschulen bleiben 75 Prozent ohne Abschluss
Im Nationalen Bildungsbericht hatten die Experten vor einem Jahr mehr Forschung zu der Frage gefordert, unter welchen Bedingungen es für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auch weiterhin sinnvoll sein könnte, eine Förderschule zu besuchen. Klemm ist skeptisch. Er geht zwar auch davon aus, dass es dauerhaft Kinder und Jugendliche mit bestimmten Behinderungen geben wird, die in Förderschulen besser aufgehoben sein werden. Mit Blick auf die Gesamtheit der Förderschüler verweist er aber darauf, dass noch immer im Schnitt 75 Prozent der Förderschüler ohne Hauptschulabschluss bleiben. Nationale und internationale Studien belegten zudem: „Grundschüler, die inklusiv unterrichtet werden, machen größere Lernfortschritte als getrennt beschulte Kinder.“
Berlin ist im neuen "Bildungsmonitor" Schlusslicht
Als Inklusionsland topp, bei der Bildung insgesamt flopp? Das legen die Ergebnisse des gestern präsentierten „Bildungsmonitors“ der arbeitgeberfinanzierten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) nahe. Demnach landet Berlin zum wiederholten Mal auf dem letzten Platz unter den 16 Bundesländern, weit hinter der Führungsgruppe mit Sachsen, Thüringen, Bayern und Baden-Württemberg. Die ostdeutschen Länder stagnierten allerdings in der Entwicklung ihrer Bildungssysteme, auch weil dort kaum Zuwanderer lebten und damit zusätzliche Fachkräfte aus dem Ausland fehlten, heißt es. Solche ökonomischen Kriterien sind prägend für die vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln erstellten Studie. Die GEW moniert, er halte „wissenschaftlichen Standards nicht stand“. Dass Berlin Schlusslicht ist, wird unter anderem mit einer Schulabbrecherquote von sieben Prozent begründet, im Bundesschnitt sind es 5,2 Prozent. Bundesweit am besten steht Berlin aber wieder mit seiner „Forschungsorientierung“ da.