Nationaler Bildungsbericht: Die Bildungsrepublik muss Hausaufgaben machen
Die Deutschen werden immer schlauer, resümiert der Nationale Bildungsbericht. Dennoch, so wird in der umfangreichen Studie festgestellt, ist noch eine Menge zu tun. Welche Defizite gibt es?
„Ein Trend zu mehr Bildung“ – auf diese Formel bringen die Autoren den Nationalen Bildungsbericht 2014, der am Freitag in Berlin vorgestellt wurde. Der „erfreuliche Wandel des Bildungsverhaltens“ in Deutschland beginnt bei der Betreuung der Jüngsten. Knapp die Hälfte der Zweijährigen in Westdeutschland und gut 80 Prozent in Ostdeutschland sind in Krippen untergebracht. Die Schulen produzieren weniger Abbrecher, mehr Jugendliche erreichen die mittlere Reife und das Abitur. Und erstmals zählte der seit 2006 alle zwei Jahre erstellte Nationale Bildungsbericht eine gleich große Zahl von Anfängern in der dualen Berufsausbildung und im Hochschulstudium. Die steigende Bildungsbeteiligung zeige, „dass sich Investitionen in Bildung für die Einzelnen und die Gesellschaft lohnen“, sagte Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU), Mitauftraggeberin des Berichts. Doch neben der Bewegung im Bildungswesen verzeichnet die Untersuchung auch Stillstand. Der Erfolg in Schule und Beruf ist weiterhin zu stark von der sozialen Herkunft abhängig. So finden Jugendliche mit einem ausländischen Pass fast zur Hälfte keinen Ausbildungsplatz, sondern landen im sogenannten Übergangssystem, bei den deutschen Jugendlichen ist es nur ein Viertel. Der Anteil der Kinder, die aus einem arbeitslosen, armen oder bildungsfernen Elternhaus stammen, ist nur leicht gesunken – von 32,4 Prozent im Jahr 2005 auf 29,1 Prozent im Jahr 2012. Die Experten fordern Reformen bei der Qualität der Bildungsangebote von der Krippe über die Ganztagsschule bis zum Übergangssystem, um herkunftsbedingte Nachteile systematisch auszugleichen. Auftraggeberin des Nationalen Bildungsberichts ist die Politik, finanziert wird er von der Kultusministerkonferenz und dem Bundesbildungsministerium. Die Experten, die dafür Daten der statistischen Landesämter und des Bundesamts sowie große empirische Bildungsstudien auswerten, sehen sich gleichwohl als unabhängige Wissenschaftlergruppe; federführend ist das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt am Main.
Tatsächlich kommen die Bildungsforscher zu einer Reihe kritischer Befunde. Nach dem gut angelaufenen flächendeckenden Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen für unter Dreijährige brauche die frühkindliche Bildung dringend eine Qualitätsoffensive, sagte Marcus Hasselhorn vom DIPF als Sprecher der Autorengruppe. Weil die Weichen für den späteren Schulerfolg und Berufschancen bereits in der Krippe gestellt werden, müssten für die Angebote neue Standards entwickelt werden, die herkunftsbedingten Nachteilen gezielt entgegenwirken. So würden bei weitem noch nicht in allen Krippen gezielte Sprachförderung und motorische Entwicklung angeboten.
Die Fachkräfte für die Betreuung der Kleinsten seien bereits heute gut ausgebildet. Doch der Bildungsbericht zeigt auch: Vielerorts, vor allem in Ostdeutschland, werden zu große Gruppen von einer Erzieherin betreut, weil die Nachfrage nach Krippenplätzen weiter steigt. Hinzu kommt ein Versorgungsproblem in Metropolen wie Berlin. Hasselhorn kritisiert ein Missverhältnis zwischen den niedrigen Gehältern der Betreuer, die zudem häufig nur halbtags beschäftigt würden, und hohen Mieten, die geeignetes Personal aus der Stadt vertrieben.
Beim Schwerpunktthema des Bildungsberichts, der Inklusion, rufen die Experten keineswegs danach, alle Kinder mit Behinderungen an Regelschulen zu unterrichten. Ebenso wenig sprechen sie sich für eine Abschaffung der Förderschulen aus. Es müsse pädagogisch und politisch geklärt werden, „wo welche Schüler inkludiert werden“. Diese Forderung erinnert an den Fall eines Schülers mit Down Syndrom, für den seine Eltern einen Gymnasialplatz durchsetzen wollen. Außerdem sei zu klären, wo besondere Einrichtung außerhalb der Regelschulen für einen zeitlich begrenzten oder dauerhaften Besuch erhalten werden sollten. Eine Empfehlung etwa zur Beschulung geistig behinderter Schüler vermeidet die Wissenschaftlergruppe. Die Bildungsfähigkeit von Inklusionskindern sei noch zu wenig erforscht. Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) kündigte ein großangelegtes Forschungsförderungsprogramm zu Inklusionsthemen für 2015 an.
Kritisch sehen die Experten auch die Entwicklung der Ganztagsschulen. Schulen, die nur an drei Tagen ein Nachmittagsangebot machen, seien für Familien, in denen beide Elternteile arbeiten, nicht attraktiv. Das zeige auch der Trend, dass Hortangebote, die Kinder und Jugendliche oft bis in den späten Nachmittag, an allen Wochentagen und auch in den Ferien nutzen können, wieder stärker nachgefragt sind. Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen Jugendinstituts in München und Mitautor des Bildungsberichts, fordert einen Rechtsanspruch auf Nachmittagsbetreuung.
Gleichzeitig beklagen die Wissenschaftler einen „Stillstand bei der Konzeption der Ganztagsschulen“. Auch hier müssten sich die Kultusminister auf verpflichtende Standards für Projekte am Nachmittag einigen. Dass heute 50 Prozent der Schulen Ganztagsangebote machen und ein Drittel der Schüler daran teilnimmt, dürfe noch nicht das Ende des Ausbaus bedeuten. „Deutschland muss sich entscheiden, ob und wie es ein Ganztagsschulland werden will“, sagt Rauschenbach.
Selbst der immer höhere Grad der Akademisierung, den die OECD seit Jahren vehement von Deutschland eingefordert hat, birgt seine Schattenseiten. Dass sich die Bildungsströme nachhaltig von der beruflichen Bildung zur Hochschulbildung verschoben haben, führe zu einer ungewollten Konkurrenz zwischen beiden Systemen heißt es. Einen Lösungsansatz sehen die Forscher in einer erhöhten Durchlässigkeit: Gefragt seien etwa einheitliche Regeln, nach denen sich Studienabbrecher Leistungen von der Hochschule in einer dualen Berufsausbildung anrechnen lassen könnten.
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