zum Hauptinhalt
Erkrankt. Die Flussblindheit, eine von Mücken übertragene Wurmkrankheit, machte diesen Patienten in Nigeria zum Pflegefall.
© picture alliance / dpa

Vernachlässigte Tropenkrankheiten: „Mehr als eine Milliarde Betroffene“

Im Kampf gegen tödliche Parasiten wird mehr politisches Engagement benötigt, sagt Martin Kollmann, Mitbegründer eines Netzwerks gegen Tropenkrankheiten.

Herr Kollmann, was genau sind vernachlässigte Tropenkrankheiten?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) benennt 18 Tropenkrankheiten, die von Mensch zu Mensch, aber auch von Tier zu Mensch übertragen werden können. Vor allem sind es alles Krankheiten von vernachlässigten Menschen. Sie leben in extremer Armut und in Regionen mit schwacher Gesundheitsinfrastruktur. Und es sind ganz besonders oft Kinder und Frauen betroffen.

Warum wurden diese Erkrankungen bisher vernachlässigt?

Sie konkurrieren um Aufmerksamkeit mit Aids, Malaria und Tuberkulose. Und die sind oft tödlich. Die Neglected Tropical Diseases (NTDs) sind vor allem für chronische Erkrankungen und Behinderungen ursächlich.

Wie viele sind von NTDs betroffen?

Da gibt es sehr unterschiedliche Zahlen. Wir gehen wie die WHO von über einer Milliarde Menschen aus. Allerdings können aus praktischen Gründen einzelne Personen nicht allesamt auf einzelne Tropenkrankheiten getestet werden. Wir können nur die Zahl der Menschen, die infiziert oder direkt bedroht sind angeben. Afrikanische Länder tragen weltweit den größten Teil der Gesamtlast der vernachlässigten Tropenkrankheiten. Viele dieser Krankheiten kommen aber auch zum Beispiel in Südamerika, dem Nahen Osten oder in Asien vor.

Martin Kollmann berät die Christoffel-Blindenmission für vernachlässigte Tropenkrankheiten und ist Mitbegründer des Deutschen Netzwerks gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten.
Martin Kollmann berät die Christoffel-Blindenmission für vernachlässigte Tropenkrankheiten und ist Mitbegründer des Deutschen Netzwerks gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten.
© CBM

Verlaufen die Krankheiten auch tödlich?

Ungefähr 200 000 bis 500 000 Menschen sterben jährlich an NTDs. Es gibt dabei viele indirekte Wechselwirkungen. Deswegen ist es oft schwer, das direkt nachzuverfolgen und zu quantifizieren. Zum Beispiel erhöht Bilharziose, eine Parasitenkrankheit, das Übertragungsrisiko des Immunschwächevirus HIV bei Frauen. Also sagt man: Sie ist an HIV gestorben, aber ohne die Bilharziose-Erkrankung hätte sie sich vielleicht nie infiziert.

Was kann man gegen die Ausbreitung tun?

Gegen fünf NTDs gibt es wirksame Medikamente, die regelmäßig in Massenverteilungen, oft unter Einbeziehung von Gemeindehelfern, in betroffenen Regionen ausgegeben werden. Das funktioniert ähnlich wie Impfkampagnen. So kann man die Übertragung in diesen Bevölkerungsgruppen unterbrechen. Dazu gehören das Trachom und die Flussblindheit, beides sind vermeidbare Augenerkrankungen, die Elephantiasis, Geohelminthen (durch die Haut aufgenommene Würmer) und die Bilharziose. Sie sind für circa 90 Prozent der NTD-Last ursächlich. Zur anderen Gruppe gehören die Afrikanische Schlafkrankheit und die Leishmaniose, bei denen man gezielt die Kranken finden und behandeln muss. Hierbei sind funktionierende Gesundheitssysteme dringend erforderlich.

Woher kommen die Medikamente?

Pharmaunternehmen wie Pfizer in den USA oder MSD und Merck in Deutschland, um nur drei zu nennen, spenden diese Medikamente für die Massenbehandlungen.

Kommt man da nicht in Gewissenskonflikte?

Wir sind nicht pharmablind, aber wir wissen aus unserer langjährigen Erfahrung – gerade bei den Krankheiten Trachom und Flussblindheit –, dass eine solche Behandlung ohne die Medikamentenspenden nicht möglich wäre. Die Spendenprogramme bezahlen dabei nicht nur das Medikament, sondern auch den Transport bis in die Länder oder gar bis hin zu den Orten, wo Gesundheitsmitarbeiter die Medikamente abholen. Man sollte nicht in den Verdacht geraten, deswegen alles andere auszublenden, aber man kann ganz pragmatisch mit den Unternehmen zusammenarbeiten. Damit lässt man sich nicht die Kritikfähigkeit abkaufen. Nicht alle NGOs sehen das so, aber die Alternative ist, dass diese über eine Milliarde Menschen diese Behandlung nicht bekommen. Aus politischen Gründen zu sagen, mit Pharmafirmen arbeiten wir nicht zusammen, ist ein Luxus, den wir uns in Europa leisten können. Die von NTDs betroffenen Länder können das nicht. Das müssten sie mit ihrer Gesundheit und Lebensperspektive bezahlen.

Und was tut die Politik?

Die Bundesregierung hat bei G 7 und G 20 mitunterschrieben, sich verstärkt dem Kampf gegen NTDs zu widmen. Die Anfangsdeklaration von London 2012 haben wir in Deutschland komplett verschlafen, sowohl die Bundesregierung als auch die Zivilgesellschaft. Darum haben wir damals das Deutsche Netzwerk gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten ins Leben gerufen. Und das, was wir bei den NTDs machen, ist viel mehr als nur einzelne Krankheiten zu behandeln. Es geht dabei immer und krankheitsübergreifend auch darum, die Systeme nachhaltig zu stärken. Da müsste es genug Anknüpfungspunkte für die Bundesregierung geben. Doch die hat sich zu oft hinter schwammigen Formulierungen und unverbindlichen Aussagen weggeduckt. Auch auf dem NTD-Summit im April in Genf glänzte sie mit Abwesenheit.

In Berlin stellen Sie heute das „Neglected Tropical Disease Lab“ vor. Was hat man sich darunter vorzustellen?

Das NTD-Lab ist eine Veranstaltung, auf der innovative Ansätze vorgestellt und zusammen mit jungen deutschen Forschern über die Herausforderungen und Chancen diskutiert wird. Die letzte Wegstrecke bis zur Eliminierung dieser Krankheiten im Rahmen der WHO Road Map und der Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (SDGs) ist die schwierigste. Hierfür braucht es neue diagnostische und therapeutische Mittel, aber auch eine stetige Verbesserung unserer Programme, um Mittel möglichst effektiv und effizient dort einzusetzen, wo sie am meisten benötigt werden.

Die Fragen stellte Helena Wittlich.

Zur Startseite