Mehr als Rechnen: Mathematik zwischen Schule und Schönheit
Rätseln und Ringen, Beweisen und Bewundern: Warum die Wissenschaft der Zahlen jenseits von umstrittenen MSA-Tests so wichtig für uns ist.
Emotionen schlagen hoch: Die Berliner Mathematik-Aufgaben für den Mittleren Schulabschluss MSA waren dieses Jahr wohl besonders einfach. Mathematik polarisiert mal wieder. Das ist ganz typisch: Das Fach scheint ja kaum einen kalt zu lassen, die einen lieben es, die anderen hassen es. Wer kennt es? Man hasst ja am leichtesten, was man gar nicht oder nur in ganz kleinen Ausschnitten kennt.
Trotzdem erst einmal herzlichen Glückwunsch an alle, die den Test bestanden haben! Aber was können die dann? Was haben die gelernt? Heißt der bestandene MSA-Test, dass die Schülerinnen und Schüler jetzt „Mathematik können“? Dass sie mit „genug Mathematik fürs Leben“ ausgestattet sind? War das überhaupt das Ziel? Und wie viel Mathematik braucht man fürs Leben?
Und um das Ganze noch eine Stufe grundsätzlicher zu machen: Was ist Mathematik? Und warum ist das wichtig, warum sollte das interessant sein, für alle?
Wikipedia bekommt bestenfalls Note 4
Wer jetzt in bester Schülermanier erst einmal bei Wikipedia spickt, der findet, Mathematik sei „eine Wissenschaft, welche aus der Untersuchung von geometrischen Figuren und dem Rechnen mit Zahlen entstand“. O.k., in den MSA-Aufgaben ging es um geometrische Figuren und um das Rechnen mit Zahlen. Aber Wissenschaft? Wer braucht die Wissenschaft?
Wikipedia weiß, Mathematik werde „üblicherweise als eine Wissenschaft beschrieben, die durch logische Definitionen selbst geschaffene abstrakte Strukturen mittels der Logik auf ihre Eigenschaften und Muster untersucht“. Dafür bekommt Wikipedia von mir bestenfalls die Note 4, ausreichend: eine gute Beschreibung ist das nicht. Wenn das die Mathematik ist, dann mag das schwierig sein, aber interessant finde ich das nicht! Dafür bin ich nicht Mathematiker geworden. Was ist Mathematik?
Vor Abschlussprüfungen wie MSA muss der Unterricht in den Blick genommen werden. Worum geht’s da eigentlich? Worum sollte es gehen? Was soll der Unterricht vermitteln? Meiner Meinung nach reicht eine Antwort nicht aus, wir brauchen mindestens drei. Wer’s formal haben will, darf sich vorstellen, wir hätten drei Schulfächer Mathematik, mit getrenntem Lehrplan und unterschiedlichen Lehrern (und Prüfungen).
Mathematik ist wesentlicher Teil unserer Kultur
In Mathematik I ginge es dann um Mathematik als Teil der Kultur, um die Geschichte, um Mathematik als Kunst und um Kunst als Ergebnis von Mathematik. Mathematik I könnte auch mit dem Geschichts- oder dem Kunstunterricht kombiniert werden. Mathematik ist ein wesentlicher Teil unserer Kultur: Die Menschheitsgeschichte beginnt mit geometrischen Mustern und dann mit Zahlen, lange vor den Anfängen von Schrift.
Mathematik ist voller großer Rätsel, schwieriger Probleme, großer Entdeckungen, wunderbarer Strukturen. Zu erzählen wäre vom Ikosaeder. Vom Wettbewerb um die Formeln für die Gleichungen dritten Grades. Von der Gauß’schen Glockenkurve. Lernt man Mathematik kennen als eine Wissenschaft, die von bemerkenswerten Menschen vorangetrieben wurde? Euklid, Gauß, Euler, Weierstraß, Hilbert, Noether, Gödel, Grothendieck, Hirzebruch, Wiles, Tao – die Namen muss man doch mal gehört haben! Mathematik ist eine Wissenschaft, die von Menschen betrieben wird. (Es sind auch Berliner darunter!)
Mathematik produziert Kunst, die Schönheit der Formen und die Schönheit der Formeln! Und die Heldengeschichten vom Kampf mit den ganz großen Problemen, etwa um Fermats Letzten Satz oder das Keplersche Problem. Und die großen Rätsel, die uns weiter beschäftigen, die Goldbach-Vermutung zum Beispiel.
Hinter Wetterbericht, Bahnfahrplänen und Chipdesign steckt Mathematik
Die Rolle der Mathematik in der modernen Welt – das ist Teil der Menschheitsgeschichte. Physik ist nicht denkbar ohne Mathematik, beide haben sich über Jahrhunderte als siamesische Zwillinge entwickelt. Sollte nicht jeder Schüler wissen, dass sehr viel komplizierte Mathematik im Wetterbericht steckt, in den Bahnfahrplänen, in Chipdesign und in der Telekommunikation? Das ist Allgemeinwissen, auch wenn die Mathematik dahinter für die Schule zu kompliziert ist, man sie in Mathematik I nicht erklären kann: Man kann davon erzählen. Mathematik ist interessant!
Wenn Ihnen all diese Schlagworte so gar nichts sagen: Haben Sie Mathematik dann jemals kennengelernt? In den Berliner MSA-Aufgaben findet sich nichts davon. Wenn eine Aufgabe gewesen wäre „Nennen Sie drei berühmte Mathematiker“, hätten Sie versagt? Oder „Nennen Sie ein ungelöstes mathematisches Problem“ – was fällt Ihnen da ein?
Das Schulfach Mathematik II sollte jeden von uns mit dem Handwerkszeug fürs tägliche Leben ausstatten. Wir brauchen im Alltag ja gar nicht viel Mathematik. Die Grundrechenarten, Prozente und Zinsen, elementare Geometrie: All das findet sich schon in dem Kleinen Rechenbüchlein von Adam Ries 1522, mit dem die deutschen Kaufleute das Rechnen gelernt hatten, damit unabhängig wurden von den Rechenmeistern, die fürs Vor- und Nachrechnen der Rechengeschäfte saftige Gebühren nahmen (wie heute nur die Notare für Rechtsgeschäfte). Das war die Basis für den wirtschaftlichen Aufschwung im 16. Jahrhundert und gehört auch heute noch zur Grundausstattung, und zwar ohne Taschenrechner. Seit Adam Ries sind noch die Wahrscheinlichkeiten dazugekommen, und die Interpretation von Grafiken, Statistiken und ihre Tücken und Fallstricke: mathematisches Handwerkszeug auch für die Zeitungslektüre, unverzichtbar! All das finde ich auch in den MSA-Aufgaben wieder, Mathematik II wird da abgeprüft.
Die Kurvendiskussion ist ein Prototyp für die Analyse von Zusammenhängen
Und noch ein Schulfach: Mathematik III leistet die Hinführung zu Mathematik als Wissenschaft. In Mathematik III lernt man, wie Mathematik funktioniert, das saubere und wasserdichte Argumentieren, die Gesetze der Logik, der Beweis auf Widerspruch, die vollständige Induktion. Wasserdicht argumentieren, sorgfältig formulieren, aber auch mit Fehlern und mit Rundefehlern und mit begrenzter Rechengenauigkeit umzugehen: das sind Fähigkeiten, die man nicht nur für ein Mathematikstudium braucht, sondern auch für den Einstieg in die Rechtswissenschaften oder in die Medizin, sie sind Teil der Studierfähigkeit. Die „Kurvendiskussion“ ist nichts, was wir im Alltag brauchen, aber sie ist ein Prototyp für die Analyse von Zusammenhängen, und eine hervorragende Trainingseinheit für das Verständnis von „notwendigen“ und von „hinreichenden“ Bedingungen. Jeder Anwalt und jeder Arzt sollte damit argumentieren können! Mathematik III ist also wesentlicher Teil der Vorbereitung auf ein Abitur und der Studierfähigkeit ...
Drei getrennte Schulfächer Mathematik I–III? Das war ein Gedankenspiel, das ist natürlich nicht machbar, und auch nicht sinnvoll oder wünschenswert. Auch, weil die drei Teile zusammengehören. Mathematikunterricht der Mittelstufe scheint sich aber heutzutage auf Mathematik II zu konzentrierten, auf die Alltagsmathematik, den Werkzeugkasten. Und das wird dann abgeprüft. Aber die Motivation muss doch auch aus Mathematik I kommen, und die „Mathematik für Schlüsseltechnologien“, die sich das Berliner Forschungszentrum Matheon seit 2002 auf die Fahnen geschrieben hat, ist ohne Mathematik III nicht zu haben.
Abstrakteste Formeln werden Kunst
Kein Fach wird so wie die Mathematik schon von den Lehrplänen auf Haut und Knochen reduziert wie die Mathematik. Überblickswissen, Panorama, Geschichten, Perspektiven – bleiben die alle im Werkzeugkasten stecken? Das wäre schade! Die wahre Schönheit, die in den Zahlen und Figuren steckt, ist eben nur zu sehen, wenn man die ganze Mathematik vermittelt, weit über das Werkzeugkastenwissen hinaus. Ja, Mathematik ist schwierig, das gehört dazu, das macht Mathematik auch interessant und spannend. Und man muss das nicht alles verstanden haben um zu sehen, dass Mathematik etwas Besonderes ist. Mathematik hat viele Zugänge, und genauso viele gute Motivationen gibt es dafür, mehr sehen und wissen zu wollen.
Kann man die Schönheit der Mathematik auch ganz anders entdecken? Mathematik als Kunst erfahren, ohne sie zu studieren? Ja, natürlich! Dazu laden die geometrischen Figuren in der Natur ein, aber auch in der Architektur. Jede der großen Kuppeln über dem Petersdom oder dem Reichstag, die Glasdächer über dem Hauptbahnhof oder dem Innenhof des Jüdischen Museums ist ein Dreiklang von Mathematik, Architektur und Kunst. Geometrie als Kunst produzieren die Architekten und Statiker, ebenso die Geometer des Berlin-Münchner Sonderforschungsbereichs „Diskretisierung“. Die abstraktesten Formeln werden Kunst, wenn man sie großformatig reproduziert, vor Farbflächen stellt und wirken lässt. Seit den 1960er Jahren produziert so der französische Bildhauer Bernar Venet, dem wir in Berlin auch den riesigen Stahlbogen vor der Urania verdanken, große Kunst!
Fehler gehören dazu
Doch ist das wirklich Kunst? Der amerikanische Kritiker Donald Kuspit schrieb über Mathematikgrafiken von Venet: „Wir haben keine Angst mehr, ignorant zu sein, weil die Farben es uns möglich machen, unsere Ignoranz anzunehmen als ein Weg zur emotionalen Wahrheit. Wir schämen uns nicht mehr für unsere Befremdung, die Fremdartigkeit der Mathematik wird zum Eintrittspunkt zu den emotionalen Tiefen.“ Kuspit glaubt in den Mathematik-Grafiken von Venet sogar eine „sexuelle Wahrheit und Tiefe“ zu erkennen. Sehen Sie die auch? Ich bin da profaner. Mir fällt auf, dass Venet beim Reproduzieren der Formeln Fehler eingebaut hat. Ich glaube, sie gehören dazu. Zur Mathematik, und zur Kunst.
Der Autor lehrt Mathematik an der Freien Universität Berlin. 2013 erschien von ihm „Mathematik – Das ist doch keine Kunst!“ im Knaus-Verlag, 2016 in zweiter Auflage: Ehrhard Behrends, Peter Gritzmann & Günter M. Ziegler (Hrsg.): „? & Co. Kaleidoskop der Mathematik“, Springer Spektrum.
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