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Ein Flickenteppich?
© Doris Spiekermann-Klaas

Debatte um den Föderalismus: Machtballung? Nein, danke!

„Kleinstaaterei“, "Zersplitterung", "Flickenteppich": Das Föderale gilt als defizitär, Zentralisierung als vorteilhaft. Dahinter steckt auch ein überkommenes Geschichtsbild. Ein Essay

Ein Essay von Albert Funk

Ob Anja Karliczek weiß, warum das weite Politikfeld des Kulturellen, wozu auch die Bildungspolitik zählt, in Deutschland bei den Ländern angesiedelt ist? Und warum das im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz bastelte, nicht strittig war? Oder auch in der Weimarer Republik, die ja ziemlich zentralistisch gestrickt war? Auch die neue Bundesbildungsministerin will sich jetzt in die Länderdomäne einmischen, offenbar bis in die Lehrplan- und Unterrichtsgestaltung hinein, nimmt man ihre Aussagen im Interview mit der „Zeit“ vor Ostern ernst. Da deuten sich Konflikte an – etwa um das Projekt der Schulcloud, ein Kernprojekt des digitalisierten Unterrichts. Karliczek will eine bundesweite Cloud, einige Länder arbeiten an eigenen Clouds. Es geht um die Zukunft.

Die Vergangenheit lehrt, dass sich daran – wie immer, wenn die verfassungsrechtliche Verantwortung bei den Ländern liegt, der Bund sich aber berufen fühlt – eine Grundsatzdebatte um Föderalismus und Bundesstaat knüpfen wird. Mit den üblichen Schlagworten und Floskeln. „Kleinstaaterei“ bei der Digitalisierung der Schulen – wie kann das sein bei diesem nationalen Mega-Thema? Ein „Flickenteppich“ bei der Schulcloud – passt das ins 21. Jahrhundert? Es wird verlässlich auch die Warnung vor „Zersplitterung“ zu hören sein. Und überhaupt: Ist der Föderalismus nicht ohnehin ein Relikt? In Online-Kommentaren wird sich wieder die Klage finden, der Bundesstaat sei uns ja nach 1945 von den Alliierten oktroyiert worden.

Unerschütterlich wie in ein Bismarck-Turm

Hinter diesen Schlagworten steckt, oft gar nicht bewusst, ein Geschichtsbild, das zwar aus dem 19. Jahrhundert stammt, aber unerschütterlich steht wie ein Bismarck-Turm. Es unterfüttert das ausgesprochen unitarische Verfassungsverständnis, das in weiten Teilen der Rechtswissenschaft vorherrscht, in der höheren Bürokratie des Bundes und auch bei Karliczeks Kollegen im Bundestag. Es ist die in ihrer Zeit ungemein erfolgreiche nationalliberale Erzählung der Häussers, Droysens, Sybels, Treitschkes, der „kleindeutschen Geschichtsbaumeister“ (wie ein Gegner sie nannte), wonach das deutsche Volk nach Jahrhunderten der Schwäche und Erniedrigung im Kaiserreich von 1871 endlich die ersehnte nationale Einigung erfüllt bekam und die ihm zukommende Machtstellung unter den Völkern dieser Erde. Preußens angebliche Rolle dabei wurde wohlgefällig beschrieben.

In diesem Geschichtsbild in unitarischer Absicht kommt dem Föderalen die Rolle des Schurken zu, verantwortlich für einen im späteren Mittelalter einsetzenden Zerfallsprozess (davor war das Reich unter mächtigen Kaisern geeint). Der Tiefpunkt der Defizitgeschichte ist der Dreißigjährige Krieg und der von fremden Mächten aufgedrückte Westfälische Friede, der die Zersplitterung des Reichs in 300 souveräne Staaten vollendet und ebenjenes kleinstaatliche Chaos gebracht habe, das begleitend zu dieser Erzählung kartografisch als „Flickenteppich“ dargestellt wurde. Dass der abschätzig gemeinte Begriff Kleinstaaterei von dem nationalistischen Eiferer und „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn stammt, wirkt bis heute keineswegs abschreckend.

Diffuse Wahrnehmung

Dieses Geschichtsbild ist durch die neuere Geschichtswissenschaft zwar längst korrigiert, relativiert oder abgeräumt worden (und über die 300 souveränen Staaten hätte man sich schon im 18. Jahrhundert gewundert, es waren ja nur Reichsstände). Aber im allgemeinen Geschichtsbewusstsein ist das nicht angekommen. Es gibt da eine gewisse Revisionsresistenz. Noch immer herrscht jene diffuse Wahrnehmung, wonach Föderalismus eine eher schwache Ordnung ist und eigentlich überwunden werden müsste, so wie er einst nur als Durchgangsstation zum Einheitsstaat wahrgenommen wurde. Dabei zeigt sich, wie ein roter Faden, ein durchgehender föderativer Grundzug in der deutschen Geschichte. Man könnte zugespitzt sagen: Das Nationale liegt im Föderalen.

Als sich unlängst unter Leitung des renommierten Verfassungshistorikers Dietmar Willoweit einige Geschichtsforscher in Fulda trafen, zu einem von einem engagierten örtlichen Bürgerverein initiierten Symposium über„Föderalismus vom ostfränkischen Königtum bis zur Bundesrepublik“, kam das so explizit freilich nicht zur Sprache. Das Malen von nationalen Geschichtsbildern ist zwar ganz nicht aus der Mode gekommen (Willoweit erinnerte an Helmut Plessners „verspätete Nation“, an die sich die Sonderwegs-These band), aber ein föderales „Gegengeschichtsbild“ zur unitarischen Erzählung hat sich bisher nicht etabliert. Dazu sind viele Revisionen – das bündische Verfassungsverhältnis von Königen und Fürsten im Mittelalter im Sinne einer „konsensualen Herrschaft“ etwa, die Darstellung des Reiches der Frühen Neuzeit als aristokratisch-föderatives System vor allem durch den Jenaer Historiker Georg Schmidt, die neuerdings freundlichere Bewertung des Deutschen Bundes – wohl doch noch zu frisch.

Regionalität als Kontinuum

Zwar wurde in Fulda deutlich, dass Regionalität sich durch die gesamte deutsche Geschichte zieht, eingebunden in ein größeres Ganzes, ob nun Reich, Bund oder Republik. Der föderative Grundzug mag freilich im Mittelalter weniger zu greifen sein als in späteren Epochen (jedenfalls scheuen sich die Historiker dieser frühen Zeit, von Föderalismus zu reden – man hantiert nicht gern mit moderneren Begriffen). Auch ist weiter umstritten, ob man das Alte Reich nach der um 1500 durchgeführten „Reichsreform“ als eine Art vormodernen Bundesstaat sehen kann.

Mit der Regionalität verbindet sich freilich ein verbreitetes und über Jahrhunderte konstantes Autonomieverlangen der Teile des Ganzen, eine Grundbedingung für Föderalismus. Das war so in den verschiedenen Rechtsräumen des frühen Mittelalters (mit schwäbischem, sächsischem, bayerischem oder fränkischem Recht) und in den Landfriedensregionen des späteren Mittelalters, als „Einungen“ organisiert, also bündisch, in denen regionale Akteure autonom darangingen, vor allem das Fehdeunwesen zu beseitigen. Die seit 1500 eingerichteten und bis weit ins 18. Jahrhundert wirkenden, heute aber völlig vergessenen Reichskreise gehören ebenfalls in diese Geschichte regionaler Autonomieräume. Sie dienten dazu, das Gewusel der Reichsstände in Gegenden wie Schwaben oder Franken föderal zu integrieren (und zwar in der Region selbst wie auch innerhalb des, modern gesprochen, Mehrebenensystems des Reiches).

Verlangen nach Autonomie

Diese Räume waren nicht klein, sondern nahmen schon die größeren der heutigen Länder vorweg – teils sogar dem Namen nach, bisweilen geografisch. Im Deutschen Bund mit seiner österreichisch-preußischen Doppelhegemonie äußerte sich das Autonomieverlangen der liberaleren Mittelstaaten darin, nicht jede reaktionäre Zumutung aus Wien und Berlin umzusetzen. Dass die Revolution 1919 unmittelbar gelang (im Gegensatz zu der von 1848), lag auch daran, dass sie von den Ländern ausging, die dann, frisch demokratisiert, auf ihre Autonomie gegenüber Berlin pochten, worauf der frühere Leiter des Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, bei der Tagung in Fulda aufmerksam machte. Auch im Parlamentarischen Rat spielte das Verlangen nach Länderautonomie zumindest eine so entscheidende Rolle, dass der neue Bundesstaat nicht schon qua Verfassung aus dem föderalen Lot geriet.

Dass Regionalität, Autonomieanspruch und föderale Gestaltungsmittel zentraler Machtballung nicht immer, aber oft Grenzen zogen, sollte heute vielleicht nicht mehr als Nachteil betrachtet werden. Die vielfältige und stark in die Regionen reichende deutsche Theater- und Orchesterlandschaft (man könnte auch die Museen hinzunehmen) wurde übrigens gerade vom Auswärtigen Amt für die Unesco-Liste des schützenswerten Kulturerbes der Menschheit angemeldet. Spielte da etwa Kleinstaaterei eine Rolle? Zersplitterung? Der Flickenteppich?

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