Berlin: Kriminologie im Knast studieren
In Berlin absolvierten erstmals in Freiheit Studierende mit Gefängnisinsassen ein gemeinsames Uni-Semester. Dahinter steckt eine einfache Idee.
Ein lang gezogenes Zimmer im ersten Stock, Raum 5/1020. An beiden Kopfenden ist eine Tafel angebracht, auf dem grünlichen Linoleumboden stehen Tische und Stühle in der pädagogisch wertvollen U-Form. Ein ganz normales Klassenzimmer also. Doch die acht Fenster sind vergittert, dahinter liegen hohe Mauern und Stacheldraht, oben ziehen violett-rosa Wolken in der frühen Abenddämmerung vorbei. „Schule“ steht draußen in nüchternen Lettern am Gebäude.
Nachmittagsunterricht in der Justizvollzuganstalt Berlin-Tegel, aber das, was in diesem Klassenzimmer im Herbst 2018 begonnen hat, ist einmalig in Deutschland. Denn hier lernen erstmals Studierende, die in Freiheit leben, gemeinsam mit Studenten, die gefangen sind.
Ein Ziel: Die Isolation der inhaftierten Studierenden aufbrechen
Gefangene, die in Haft studieren, sind die Ausnahme – aber es gibt sie. Von zwölf aktiv Studierenden weiß die Justizverwaltung, alle sitzen in der JVA Tegel ein. Studieren dürfe, wer das Abitur mitbringt oder es im Gefängnis ablegt und die nötigen „persönlichen Voraussetzungen“ mitbringt, heißt es. Akut Suchtkranke oder Gewalttätige etwa gälten als nicht geeignet. Ein Studium im Gefängnis anzufangen oder fortzusetzen, gehöre zur Therapie – wie auch Berufsausbildungen oder Jobben in der JVA. Eingeschrieben sind die Studierenden durchweg an der Fernuniversität in Hagen. Doch die üblichen Präsenzzeiten, in denen Fernstudierende zusammenkommen, haben die Inhaftierten nicht. Der Berliner Modellversuch nun soll die Isolation der gefangenen Studierenden aufbrechen.
Jeweils fünf Studenten aus der Justizvollzugsanstalt Tegel – wegen der Geschlechtertrennung im Gefängnis ausschließlich Männer – sowie Jurastudierende der Freien Universität (FU) und Studierende der Sozialarbeit an der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) haben sich im vergangenen Semester mit kriminologischen Fragen beschäftigt.
Die letzte Stunde des Semesters Anfang Februar ist zur Reflexion gedacht. Die von draußen haben Kuchen gebacken, die von drinnen Kaffee gekocht. Zum Einstieg steht ein Zitat von Fjodor Dostojewski zur Diskussion: „Den Grad der Zivilisation einer Gesellschaft kann man am Zustand ihrer Gefangenen ablesen“, schrieb der russische Schriftsteller in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. „Wieso gehen wir davon aus, dass es auch in Zukunft immer Gefängnisse geben wird?“, fragt ein Student der Freien Universität. Überhaupt: Gibt es in einer zivilisierten Gesellschaft viele Gefangene, weil jedes kleine Vergehen geahndet wird, oder eher wenige, weil sich alle an die Regeln halten?
Gefangene konnten sich Seminarthemen wünschen
Ein Mitarbeiter der JVA, der die Reporterin begleitet, mischt sich ein und erkennt in dem Zitat das Verständnis von Nächstenliebe: „Im Umgang mit Schwächeren, mit Geächteten sehen wir den Grad des Miteinanders, der Zivilisierung, das ist an die christliche Lehre angelehnt.“ Einer der Gefangenen stimmt zu. Gerade in Dostojewskis großem Roman „Schuld und Sühne“ könne man erfahren, wie Inhaftierte dadurch wieder in die Gesellschaft zurückgeholt werden könnten. Das ist auch ein Anliegen der am Berliner Seminar beteiligen Hochschulen und der Initiatoren: Die Begegnung mit dem akademischen Alltag soll zur Resozialisierung der Strafgefangenen beitragen.
Die 90 Minuten Seminarzeit reichten selten für den Diskussionsbedarf der Teilnehmer, sagt Dozent Julian Knop. Gemeinsam mit Julia Wegner und Anna Kroupa hat er das Seminar konzipiert, die drei sind Doktoranden bei Kirstin Drenkhahn, FU-Professorin für Strafrecht und Kriminologie. Auch wenn sie hier als Lehrende auftreten, im geschützten Rahmen des Tegeler Klassenzimmers scheinen sich die Positionen – ob gefangen, frei, Studierender, Dozent oder JVA-Bediensteter – nahezu aufzulösen. Ein Austausch auf Augenhöhe?
An der Themenfindung für das Seminar jedenfalls waren die Inhaftierten beteiligt. Knop, Wegner und Kroupa, die den Verein „Tatort Zukunft“ gegründet haben, um neuartige Bildungsangebote in die JVA zu bringen, haben Vorgespräche mit Interessierten geführt. Doch weder sollten die JVA-Insassen lediglich ihre Hafterfahrungen verarbeiten noch die Studierenden von draußen aus purer Neugier mitmachen.
"Expertenwissen" der Inhaftierten war gefragt
Inhaltlich geht es dann um Rechtstheorie und Rechtspraxis, um Strafvollzugsrecht, Resozialisierung oder offenen Vollzug. Grundlage für die Seminare sind Fachtexte, die vor den gemeinsamen Terminen gelesen und dann in Kleingruppen besprochen werden – wie in jedem anderen Seminar auch, berichtet Professorin Drenkhahn. Sich fachlich auszutauschen und das Ergebnis der Gruppenarbeit zu präsentieren, gehört zu den Erfahrungen, die Studierenden in Haft sonst fehlen. So sei es ein Ziel des Projekts, dass „Gefangene ihr ,Expertenwissen‘ im Hinblick auf kriminologisches Fachwissen weitergeben und dadurch ihr Selbstbewusstsein steigern“, heißt es im Exposé für das Seminar.
Welche Fächer die Inhaftierten studieren, darf Drenkhahn aus Gründen der gegenüber den Gefangenen gebotenen Diskretion ebenso wenig verraten wie die Taten, für die sie einsitzen. Wegen ihrer geringen Zahl wären sie ansonsten für Außenstehende zu identifizieren.
Die Thematik des kriminologischen Seminars jedenfalls verbindet Jurastudierende und angehende Sozialarbeiter, die in der Strafgefangenenhilfe tätig werden wollen, mit den Inhaftierten. Doch anders als in bereits existierenden informellen Gesprächsgruppen in der JVA ging es den drei Promovierenden, Juristin Drenkhahn und ihrem Kollegen Heinz Cornel von der ASH darum, den Austausch auf eine akademische Grundlage zu stellen. Studienpunkte bekommen die Studierenden für regelmäßige aktive Teilnahme, angerechnet werden sie an der FU und an der ASH im Bereich Schlüsselkompetenzen. Bei den Fernstudenten aus der JVA sei die Anrechnung in ihren Studiengängen noch nicht abschließend geklärt, sagt Drenkhahn.
Angehende Juristen lernen, eine andere Perspektive einzunehmen
Doch abgesehen von den Studienpunkten sei für es die angehenden Juristen auch wichtig, Strafgefangene in ihrer Rolle als Lernende zu erleben und eine andere Perspektive einzunehmen, betont Krop. Das bestätigt eine Studierende: „Jura ist ziemlich abstrakt, hier kann ich sehen, was eine Rechtsnorm in der Realität bedeutet.“ Unter seinen Studierenden sei das Interesse an der „Uni im Vollzug“ ebenfalls groß, sagt Heinz Cornel, ASH-Professor für Jugendrecht, Strafrecht und Kriminologie. Sozialarbeit im und nach dem Strafvollzug sei ein zunehmend nachgefragter Bereich. Das Projekt werde auch dem politischen Anliegen gerecht, das Leben der Gefangenen den allgemeinen Lebensverhältnissen möglichst anzunähern.
„Für mich bedeutet dieses Seminar vor allem Wertschätzung. Als Mensch. Als Akademiker“, sagt ein älterer Gefangener. „Es ist eine Bereicherung, mit Studenten von draußen zusammenzuarbeiten, mein eingeschränktes Bild zu erweitern, andere Meinungen zu hören.“ Doch wenn das Seminar zu Ende ist und die Gefangenen der JVA Tegel geschlossen abgeholt werden, wird das Trennende zwischen den beiden Studierendengruppen wieder deutlich. Die einen gehen zu ihren Hafträumen und die anderen ins Freie. „Es ist immer viel zu schnell vorbei“, sagt ein Student aus der JVA, und alle blicken sich etwas verlegen an.
Nach dem ersten Seminar der „Uni im Vollzug“ soll es weitergehen, Folgeveranstaltungen in den kommenden Semestern sind geplant. So kommt ab Mai eine Professorin der University of Wyoming zum Austausch an die FU. Sie bietet im dortigen Strafvollzug seit Jahren das Lehrprojekt „Pathways from Prison“ (Pfade aus dem Gefängnis) für Studierende von drinnen und draußen an – allerdings ohne die persönliche Begegnung. In den USA werden die Studierenden per Videokonferenz zugeschaltet. Auch das macht das Berliner Projekt so besonders. Denn „positive soziale Außenkontakte“, wie es im Kriminologen-Deutsch heißt, gelten als besonders förderlich für die Resozialisierung.
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