Häftling in JVA Tegel: Der alte Mann und der Knast
Als Brandt Kanzler wurde, saß Hans Kirschke schon in Haft. Keinen Tag der vergangenen 50 Jahre hat er in Freiheit verbracht. Die Geschichte eines Mörders.
Auch am Sonntag wird der Schlüssel eines Justizangestellten in seiner Zellentür klappern. Hans Kirschke kennt das Geräusch. Er kennt es besser als alle anderen Gefangenen in Berlin. Hans Kirschke sitzt seit dem 19. Februar 1969 in Berlin hinter Gittern. Am Dienstag sind es also genau 50 Jahre. Niemand lebt in Berlin länger hinter Gittern. Bei der ersten Mondlandung saß er im Knast, kurz darauf wurde Willy Brandt Kanzler.
Hans Kirschke (Name geändert) wurde am 27. Juni 1969 verurteilt. Und zwar zu „lebenslangem Zuchthaus“ und „dauerndem Ehrenrechtsverlust“. Beide Begriffe sind heute vergessen, das Zuchthaus und der Ehrverlust wurden im selben Jahr aus dem Strafgesetz gestrichen. Kirschke blieb. Seit mehr als 18.000 Tagen sitzt er jetzt hinter Gittern, wenige Monate in Untersuchungshaft in Moabit, gut 49 Jahre in Tegel. Jetzt in Haus 5, auf der Station für Lebenslängliche. Er lebt spartanisch, hat kaum persönlichen Besitz in der Zelle.
Kirschkes Tat hatte 1969 West-Berlin erschüttert
Kirschke ist in allen Punkten ein Extrem. Seine Tat hat West-Berlin 1969 erschüttert. Am Mittag des 13. Februar lauert Kirschke an seiner Wohnungstür in Lichterfelde der fünfjährigen Ramona im Treppenhaus auf. Sie wohnt mit ihren Eltern eine Treppe höher. Er würgt das Mädchen und knebelt es. Als das Kind tot ist, missbraucht Kirschke die Leiche. Anschließend versteckt er sie unter seinem Bett. Eine Nacht schläft er noch darin, dann vergnügt er sich einige Nächte mit verschiedenen Prostituierten in einer Pension in Schöneberg.
Der Vater von Hans Kirschke wundert sich zunächst über den Geruch aus dem Zimmer seines Sohnes. Er wirft einige belegte Brote weg, doch der Geruch bleibt. Nach fünf Tagen findet der Vater die Kinderleiche unter dem Bett. Er informiert Ramonas Eltern und die Polizei. Die Mordkommission ist noch im Haus, als der Mörder am nächsten Morgen in die Nelkenstraße zurückkehrt. Er lässt sich widerstandslos festnehmen. Und sitzt seit diesem 19. Februar 1969 in Haft.
Seitdem, 50 Jahre lang, hat Kirschke mit keinem Gutachter, mit keinem Psychologen gesprochen. Dies aber wäre die Voraussetzung für eine Freilassung. Der Rest einer lebenslänglichen Strafe kann zudem nur zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn der Verurteilte einwilligt. Ein Gutachter nannte ihn im Prozess, der schon vier Monate nach der Tat begann, einen Sonderling und Einzelgänger und attestierte ihm „allgemeine Kontaktschwäche“. Wieso sich der zur Tatzeit nicht vorbestrafte 33-jährige Kirschke nicht die geringste Mühe machte, die Leiche zu verstecken, blieb im Prozess ungeklärt. Geistig gestört sei der Täter aber nicht, versicherte der Gutachter im Prozess damals.
Kirschke sei "sehr schwer zugänglich", so ein Mithäftling
Der gelernte Fahrradmechaniker arbeitet seit seiner Inhaftierung in der Schlosserei der JVA Tegel, also seit fast 50 Jahren. Für Gefangene gibt es keine Regelung zum Ruhestand, zur Rente. Kirschke lässt seit Jahrzehnten durchblicken, dass er sich zu seiner Schuld bekenne, dass er zu Recht hinter Gittern sei. „Das ist seine Art der Sühne“, sagt ein Bediensteter, der ihn seit vielen Jahren kennt. Viel Kontakt hat er nicht zu Mitgefangenen. Hans sei „sehr schwer zugänglich“, sagt ein Häftling, der auch schon 25 Jahren in Tegel hinter sich hat.
Vor sechs Jahren, als der Tagesspiegel zum ersten Mal über Kirschkes lange Haft berichtete, hatte ein Häftling bei der Frage nach Kirschke spontan gesagt: „Der ist doch tot.“ Aber Kirschke war nicht tot. Nur vergessen. Seit den Prozessberichten im Juni 1969 hatte niemand mehr Notiz genommen. Er habe niemanden mehr „draußen“, heißt es heute bei der Justiz. Am 2. Mai wird Kirschke 84 Jahre alt. Nur einer ist in Tegel noch älter, der Sicherungsverwahrte Heinz B., zuletzt 2009 verurteilt.
Lebenslängliche sitzen im Schnitt 20 Jahre in Haft, viele viel länger
Der heutige Justizsenator Dirk Behrendt hatte als Abgeordneter beharrlich der damals SPD-geführten Justizverwaltung Anfragen zu „Überlanger Inhaftierung in Berlin“ gestellt. Als Antwort erhielt der grüne Politiker 2013 zum Rekordhalter nur wenige dürre Angaben von der Justiz: „Mord / lebenslang / seit Februar 1969“. Der Tagesspiegel hakte damals nach, recherchierte, wer sich dahinter verbirgt. Behrendt hatte immer Interesse an alten Gefangenen gehabt. Er hatte als Abgeordneter einige, wie den Sicherungsverwahrten Klaus Asmus, in der Zelle besucht. Dem Tagesspiegel sagte Behrendt: „Der Fall hat auch eine menschlich tragische Dimension, gerade wenn der Betroffene nach so langer Haft offenbar Angst vor der Freiheit hat.“ Dass Lebenslängliche alle nach 15 Jahren rauskommen, ist nur ein Vorurteil. Im Schnitt dauert lebenslang in Deutschland 20 Jahre, viele sitzen viel länger.
Mit einigen Tricks hat die Justiz in den vergangenen Jahren versucht, Kirschke die Welt draußen zu zeigen. Weil Kirschke niemals mit einem Psychologen gesprochen hat, dürfte es eigentlich keine Lockerungen geben, also auch keine Ausführung. Zwei Mal waren Bedienstete, in zivil, dennoch mit Kirschke draußen.
Sie mussten ihn locken, mit einem Trick: „Den Tabak gibt’s nur draußen.“ Zu dritt sei man die Seidelstraße Richtung Borsigwerke runter spaziert, zu Currywurst mit Pommes an einer Bude und natürlich Tabak kaufen. Doch der alte Mann fand kein Interesse an der Freiheit. Das Beste für Kirschke wäre ein betreutes Wohnen, heißt es in der Justiz. Aber dazu müsste er einwilligen. Ein Funken Hoffnung keimte jetzt in der Justiz auf, weil Kirschke Kontakt nach draußen aufnahm: Dem Tagesspiegel hatte er zu Weihnachten eine Postkarte geschickt.
Viele alte Gefangene sind in den vergangenen Jahren im Gefängnis gestorben, so wie die Gesellschaft altert, altern auch die Gefangenen. In anderen Bundesländern gibt es bereits spezielle Gefängnisse für alte Menschen, in Berlin nicht. Ein Fall hatte besondere Schlagzeilen gemacht: Vor fast genau 12 Jahren brach in der Kirche der JVA Tegel ein 56-Jähriger beim Gottesdienst tot zusammen.
Mehrfach hatte sich Eberhard Reichert vor seinem Tod an den Tagesspiegel und die damalige Justizsenatorin gewandt und auf seine verzweifelte Lage hingewiesen. Sein Gnadengesuch war trotz schwerster Krankheit abgelehnt worden. Senatorin Karin Schubert (SPD) geriet in Erklärungsnöte. „Die Gefangenen bleiben in Haft, bis sie sterben“, hatte Reicherts Anwalt damals der Justiz vorgeworfen. Aber Alter oder Krankheit sind keine Entlassungsgründe.
Bei Kirschke wird der Schlüssel also weiter in der Zellentür klappern.
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