Ernährungsforschung: „Jojo-Diäten sind kein Problem“
Die Ernährungsforscherin Susan Jebb will politische Steuerung des "Nahrungsmittel-Systems". Ihr eigenes Fach sieht sie kritisch und mahnt bessere Studien an.
Susan Jebb, Ernährungswissenschaftlerin an der Universität Oxford, war über zehn Jahre Chefberaterin mehrerer britischer Regierungen zum Thema Ernährung und Übergewicht. Am Montag hielt sie an der Technischen Universität die traditionsreiche „Queen‘s Lecture“, eingeführt anlässlich des Besuches von Königin Elisabeth 1965. Der Tagesspiegel traf sie zu einem Gespräch über Diäten, Politik und den zweifelhaften Ruf ihres Faches.
Professor Jebb, wie ist es, Regierungen zum Thema Ernährung und Übergewicht zu beraten?
Ich habe das zehn Jahre lang gemacht. Und ich habe da viel gelernt. Die Arten von Druck, unter denen Politiker stehen. Wir als Wissenschaftler können uns hinter den Nachweisen, der Evidenz, verstecken und sagen: Hier sind die Daten und das ist es, was man machen sollte. Aber die politische Realität ist eben unglaublich komplex, da sind so viele andere Faktoren, die hineinspielen. Das war aber auch sehr hilfreich und hat die Art und Weise, wie ich forsche und über meine Forschung nachdenke, durchaus beeinflusst. Und ich hoffe, es hat sie anwendbarer gemacht. Gleichzeitig war es eine der frustrierendsten Zeiten meines Lebens, denn was für mich ganz oben auf der politischen Agenda stand, war eben für die politischen Entscheider nur ein Aspekt von vielen.
Aus dieser Erfahrung heraus, kombiniert mit dem, was Sie wissenschaftlich wissen: Was ist das wichtigste Problem in der Anwendung von Ernährungswissenschaft?
Jeder will ja eigentlich die richtigen, die gesunden Entscheidungen treffen, aber was die Leute letztlich essen basiert meist nicht auf solchen rationalen Entscheidungen, sondern ist abhängig von dem, was wir gerne die „Nahrungsmittel-Umwelt“ nennen – Supermarktregale, Sonderangebote, Werbung, Preise. Hier entscheidet sich, was gegessen wird, lange bevor es überhaupt auf dem Teller ist. Die Herausforderung für die Politik ist es, dieses Nahrungsmittel-System zu so beeinflussen, dass die Leute letztlich gesündere Sachen essen.
Wie soll das gehen, ohne sich zu sehr in die persönlichen Freiheiten der Konsumenten, aber auch die ökonomische Freiheit der von Lebensmitteln lebenden Unternehmen einzumischen?
Es ist schwierig. Man muss tatsächlich im System intervenieren, aber das ist ja nichts Neues, das passiert ja längst in vielen anderen Zusammenhängen. Man könnte etwa vorgeben, die Präsentation im Supermarkt so zu verändern, dass es wahrscheinlicher wird, dass Leute zu den gesünderen Sachen greifen. Und da ist natürlich der Preis, der einen riesigen Einfluss auf Kaufentscheidungen hat. Wir könnten hier tiefgreifende Veränderungen erreichen, aber da muss man die Bevölkerung mitnehmen. Wenn die Leute verstehen, wie das System ihre Entscheidungen beeinflusst, dann würde ich zumindest hoffen, dass sie auch offener für Eingriffe sind, die die gesunde Wahl auch zur einfacheren Wahl machen.
Ist die Steuer auf gezuckerte Getränke, im April in Großbritannien eingeführt, ein solches Mittel?
Ja. Sie hat schon im Vorfeld dazu geführt, dass die Firmen den Zuckergehalt ihrer Getränke reduziert haben, und es zeigt sich in anderen Ländern, wo es diese Steuer schon länger gibt, dass die Leute auch vermehrt zu den zuckerärmeren Alternativen greifen.
Man müsste jetzt aber ja noch wissen, ob das die Leute wirklich gesünder macht, ob etwa Übergewicht weniger wird.
Es scheint jedenfalls so zu sein, dass die Leute weniger Zucker zu sich nehmen. Ob es zu weniger Übergewicht führt, ich glaube, wir werden nicht in der Lage sein, das zu messen.
Die Zuckersteuer bisher zeigt also vor allem, dass solche Eingriffe funktionieren können, aber nicht, was sie bringen?
Sie können funktionieren. Sie können dazu führen, dass die Industrie sich anders verhält, dass Konsumenten sich anders verhalten. Wir bräuchten aber viel mehr davon, auch bei anderen Nahrungsmitteln.
Insgesamt müsste aber solchen politischen Eingriffen vor allem eine solide Ernährungswissenschaft zugrunde liegen, die wirklich genau sagen kann, was gesund ist und was nicht. Diesen Eindruck hat man oft nicht. Immer wieder stellen sich Studien als fragwürdig heraus, viele Experten geben heute ganz andere Empfehlungen als noch vor 15 Jahren…
Eigentlich haben sich die offiziellen Empfehlungen wenig geändert: Weniger Fett, weniger Zucker, weniger Fleisch, mehr Ballaststoffe, mehr Fisch…
Aber manche Ihrer Kollegen sagen eben, dass vieles davon, etwa die Warnung vor Fett, nicht wissenschaftlich belegt ist.
Ja, und manche sind sehr gut darin, ihre eigenen Ergebnisse zu hypen und andere zu diskreditieren. Ein größeres Problem ist aber, dass jenseits dieser fachlichen Diskussionen um die Qualität der Studien die Debatte mitbestimmt wird von Leuten, die kaum fachliche Qualifikationen haben, aber jede Menge Meinungen. Das sind oft Leute aus dem öffentlichen Leben, Stars...
…Journalisten...
Jeder hat eine Meinung übers Essen, und das ist ok, aber es führt heute mehr denn je zu einer Kakophonie von Botschaften. Und die Leute haben es schwer, zwischen guter Wissenschaft und schlichter Meinungsäußerung zu entscheiden.
Da spielen berechtige Zweifel an der Qualität der Wissenschaft aber eine große Rolle, oder?
Es gibt wirklich große Probleme. Ein paar Dinge müssen wir unbedingt tun. Als erstes muss unsere Forschung präziser werden. Wir müssen in Studien, bei denen wir mit Probanden arbeiten, dieselben Standards anlegen wie die, die sich bei Arzneimittelstudien als angemessen erwiesen haben. Das ist in der Vergangenheit oft nicht geschehen.
Wie sieht es aus bei den epidemiologischen Studien, in denen große Gruppen von Menschen beobachtet oder befragt werden? Sie sind Grundlage für vieles von dem, was manche heute als gesicherte Ernährungswissenschaft ansehen.
Eines der großen Probleme hier ist, dass man dadurch, dass man Leute fragt, was und wieviel sie gegessen haben, nicht unbedingt die Wahrheit erfährt. Auch hier müsste viel stringenter vorgegangen werden, mit konkreten Hypothesen, anhand derer man die Studie ausgestaltet, anstatt wie bisher in den Daten nach allen möglichen Zusammenhängen zu suchen. Denn da findet man immer irgendetwas. Wir haben wirklich jede Menge Arbeit vor uns sicherzustellen, dass die Ernährungswissenschaft das höchstmögliche Niveau erreicht.
Aber wie macht man Studien, die nahe an der Realität sind, wo Leute also eher kleine Veränderungen im Speiseplan vornehmen, und das dann vielleicht auch noch mit ein bisschen mehr Bewegung verbinden? Kann man da überhaupt damit rechnen, deutliche Ergebnisse zu bekommen?
Ja, aber da bräuchte man natürlich viel größere Studien, mit viel mehr Teilnehmern.
Die sind dann auch viel teurer und müssten, weil es keine Firmen gibt, die daran Interesse haben, vom Steuerzahler finanziert werden?
Richtig.
Gibt es gute Kalorien und schlechte Kalorien?
Eine Kalorie ist eine Kalorie, so wie ein Zentimeter ein Zentimeter ist. Was aber richtig ist: Eine Kalorie kann in einem guten ernährungsphysiologischen Kontext stehen, also etwa zusammen mit allen möglichen guten Mikronährstoffen gegessen werden, oder zusammen mit den Dingen, die Leute eigentlich ein bisschen weniger essen sollten. Das ist wichtig, denn es geht ja beim Essen nicht um einzelne Nahrungsmittel oder Inhaltsstoffe. Leute gehen ja nicht in den Supermarkt um sich 300 Gramm gesättigtes Fett zu kaufen, sondern sie kaufen Nahrungsmittel. Und da gibt es auch einige Dinge, auf die sich sogar die Low-fat- und Low-carb-Fraktionen einigen können – etwa, dass es richtig ist, mehr Früchte und Gemüse und weniger hochverarbeitete Süßigkeiten und Kekse zu essen. Das überrascht ja niemanden.
Was Leute vielleicht überrascht, ist, dass Sie sagen, Jojo-Diäten – also Abnehmen, wieder Zunehmen, wieder Abnehmen und so weiter – seien gesund und nicht ungesund.
Es wurde immer gesagt, das sei ungesund, aber gute wissenschaftliche Daten dazu gab es gar nicht. Natürlich sollte man versuchen, verlorenes Gewicht nicht wieder drauf zu bekommen. Aber wenn das passiert, dann ist das kein großes Problem. Das ist es, was ich sage: Ergebnisse eines großen amerikanischen Programms zur Diabetes-Prävention zeigen das. Dort verloren Personen im Durchschnitt sieben Kilo, aber vier Jahre später waren sie wieder auf ihrem alten Gewicht. 15 Jahre später haben sie im Mittel aber noch immer ein um 27 Prozent geringeres Risiko, an Diabetes zu erkranken, als die Kontrollgruppe, die nie Gewicht verlor.
Hoffen wir, dass man dieser Studie trauen kann, denn das wäre auch ein befreiender Gedanke für viele, die meinen, ihre Diäten seien bisher ein einziges Scheitern gewesen.
Genau. Eine Botschaft ist auch: Selbst, wenn du es beim ersten Mal nicht schaffst mit dem Abnehmen und dem Gewicht halten, versuch es wieder. Was auch wichtig ist: Wir wissen, dass das besser unter Anleitung funktioniert. Ich setze mich dafür ein, dass wir das in unseren Gesundheitssystemen verankern. Wir belohnen Ärzte dafür, Patienten dabei zu helfen, mit dem Rauchen aufzuhören. Wir tun Vergleichbares nicht bezüglich Gewichtskontrolle. Das muss sich ändern. Man könnte viele der Erkrankungen, die mit Übergewicht zu tun haben, deutlich eindämmen und damit auch die Sozialsysteme immens entlasten.
Die Fragen stellte Richard Friebe