Erdbeben in Mittelitalien: Italiens Angst vor dem nächsten Erdstoß
Seit Ende August rumort in Italien immer wieder der Boden. Ein Ende der Erdbebenserie ist sobald nicht in Sicht. Auch in den kommende Wochen ist mit starken Stößen zu rechnen.
Der Untergrund in Zentralitalien ist weiter in Aufruhr. Am Sonntagmorgen hatte das stärkste Erdbeben des Landes seit 1980 die Stadt Norcia in Umbrien getroffen (Magnitude 6,5). Seitdem ereigneten sich Dutzende spürbare Nachbeben, die die Bevölkerung ängstigten. Bereits seit Ende August rumort es im Apennin. Auf das Erdbeben bei Amatrice, bei dem fast 300 Menschen umkamen, folgten kleinere Erschütterungen, die in der vergangenen Woche an Stärke wieder deutlich zunahmen. Experten sprechen bereits von einer „Serie“. Wie lange sie noch anhält, kann keiner sagen.
Mit dieser Ungewissheit müssen die Bewohner leben. Die meisten haben die vergangenen Tage äußerlich unversehrt überstanden. Obwohl das Beben vom Sonntag so stark war, wurden bisher nur 20 Verletzte und keine Todesopfer gemeldet – mutmaßlich, weil sie durch die Behörden und die Erdstöße der vorangegangenen Tage gewarnt waren. Tausende Menschen haben die Nächte in Zelten, Notunterkünften oder im Auto verbracht. Mehr als 15.000 seien in den Unterkünften des Zivilschutzes versorgt worden, teilten die Behörden am Montag mit. Die Zahl der Obdachlosen wird aber weit höher geschätzt.
Viele übernachten in ihren Autos
Tausende Menschen wurden an die Adria-Küste gebracht. Andere wollten ihre Heimat nicht verlassen und übernachteten in Autos. Viele sind verzweifelt. „Schlafen? Hier wackelt alles, wie willst du da schlafen?“, sagte Marco Rinaldi, Bürgermeister von Ussita. „Der Albtraum ist nicht vorbei, es ist die Angst, die uns einen neuen Schlag gibt.“
Auch Gebäude, die nicht in sich zusammengefallen sind, müssen nun von einem Techniker überprüft werden. Viele Menschen dürfen daher nicht in ihre Häuser zurück. Neben den Unterkünften wurden auch etliche Kulturgüter beschädigt, etwa die Basilika San Benedetto in Norcia. Im Zusammenhang mit der aktuellen Bebenserie rechnet das Kulturministerium mit insgesamt rund 5000 Hinweisen auf mögliche Schäden. Selbst im gut 100 Kilometer entfernten Rom gab es Schäden. Die historische Verkehrsbrücke Ponte Mazzini über den Tiber wurde gesperrt, ebenso zwei Kirchen im Stadtzentrum.
Renzi verspricht Hilfe - und dass es keine Verschwendung der Hilfen geben werde
Das Beben habe „das Herz“ Italiens verwüstet, klagte Premierminister Matteo Renzi in seinem Newsletter. „Diese Dörfer sind die Identität Italiens: Wir müssen alles wiederaufbauen, schnell und gut.“ Der Weg zurück in die Normalität ist auch in Italien immer wieder von kriminellen Machenschaften überschattet. In Anspielung auf frühere Korruptionsskandale erklärte Renzi: „Es wird kein einziger Cent verschwendet, und wir müssen zeigen, wer wir sind: Menschen, die – anders als in der Vergangenheit – wissen, wie man öffentliche Arbeiten ohne Verschwendung und ohne Diebe erledigt.“
Die drängendere Frage im Moment lautet jedoch: Wann kommt die Erde zur Ruhe? Es ist normal, dass nach einem starken Beben noch eine Zeit lang – meist Wochen, auch Monate – schwächere folgen. Es handelt sich um Ausgleichsbewegungen, mit denen sich die Erdkruste wieder „zurechtruckelt“. Seit August sind in Zentralitalien jedoch etliche Erdbeben aufgetreten, die teils stärker als ihre Vorgänger waren. Fachleute sprechen bereits von einer Serie oder Sequenz.
Erdbebenserien gibt es in Italien immer wieder
Für den Apennin ist das nicht ungewöhnlich, wie Gianluca Valensise, Seismologe am Nationalen Institut für Geophysik und Vulkanologie, der Nachrichtenagentur Reuters erklärte. So habe es 1783 in Kalabrien (Süditalien) binnen zwei Monaten eine Sequenz mit fünf starken Erdbeben gegeben, die Magnituden von mindestens 6,5 erreichten – wobei dieser Wert mit Vorsicht zu genießen ist, schließlich gab es damals keine präzise Messtechnik. Ähnlich war es 1997, als bei Assisi binnen drei Wochen drei starke Beben losbrachen.
Die Ursache für die aktuelle Serie liegt unter der Oberfläche: Der Apennin ist in viele Blöcke zerbrochen und wird aufgrund tektonischer Kräfte nach Nordosten beziehungsweise Südwesten hin gedehnt. Ist die Kraft groß genug, reißt das Gestein an einer Schwächezone plötzlich auf und zwei Blöcke werden um wenige Armlängen gegeneinander verschoben. Die Erde bebt. Das wiederum ändert die Spannung in der Nachbarschaft, angrenzende Schwächezonen – von Geologen als „Störung“ bezeichnet – werden dadurch weiter unter Stress gesetzt, womöglich bricht das Gestein dort ebenfalls.
Tektonisches Domino
Genau das ist in Zentralitalien in den vergangenen Wochen geschehen. Störungen brachen, die Erde bebte, Nachbarstörungen wurden aktiviert und brachen ebenfalls. Um dieses „tektonische Domino“ weiterlaufen zu lassen, muss der Untergrund in der Gegend bereits kräftig vorgespannt sein. Nur dann kann ein Erdbeben in der Nachbarschaft weitere auslösen.
Ob die Serie anhält oder sich in der nächsten Zeit abschwächt, kann kein Experte vorhersagen. „In den nächsten Wochen sind noch weitere starke Erdbeben möglich“, sagt Stefano Parolai vom Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam. Ob es noch viel heftigere Erdstöße geben könnte, lasse sich schwer sagen. „Wir wissen aus historischen Daten, dass in der Gegend eine Magnitude bis etwa 7 möglich ist. Darauf sollte man sich mindestens einstellen.“
Bei stärkeren Erdbeben droht nicht nur unmittelbare Gefahr für Häuser, Straßen und Brücken, die einstürzen können. Mitunter lösen die Bodenbewegung auch Hangrutschungen aus. Solche Schlamm- und Gerölllawinen bedrohen die bergige Region zusätzlich. (mit dpa)