Gesundheitliche Effekte gering: Ist rotes Fleisch jetzt doch nicht so ungesund?
Fleisch und Wurst können Krebs, Herzinfarkte und Diabetes verursachen – heißt es. Doch jetzt empfehlen Forscher, ruhig weiter zu essen.
Wenige Lebensmittel haben einen so schlechten Ruf wie Fleisch und Wurst. Das liegt nicht nur daran, dass ihre massenweise Produktion zum Klimawandel beiträgt und Tiere unter teils katastrophalen Bedingungen gehalten und getötet werden. Nein, Fleisch und Wurst sind auch ungesund, sie können Krebs und Herzkrankheiten verursachen – heißt es.
Deshalb empfehlen Experten weltweit seit Jahren unisono, viel weniger rotes und verarbeitetes Fleisch zu essen. Die Gesundheitsbehörden der USA etwa sprechen sich für nur eine Portion Fleisch pro Woche aus (hier als PDF). In Großbritannien gelten 70 Gramm pro Tag an Fleisch- und Wurstwaren als Richtlinie, und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt, selten Fleisch und Wurst zu essen: Zusammengenommen sollten es pro Woche nicht mehr als 300 bis höchstens 600 Gramm sein. Weit weniger, als in Deutschland davon verspeist wird: Der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung zufolge liegt der Pro-Kopf-Konsum seit Jahren bei etwa 60 Kilogramm Fleisch und Wurst pro Jahr. Das sind 1,15 Kilogramm pro Woche, also zwei- bis viermal so viel wie empfohlen.
Aber was, wenn das gar nicht so schlimm wäre? In der nach eigenen Angaben bisher umfangreichsten Datenauswertung kommt ein internationales Forschungsteam zu dem Schluss, dass es – zumindest gesundheitlich – nur sehr wenig bringt, auf Fleisch zu verzichten.
Die WHO stufte verarbeitetes Fleisch als krebserregend ein
Begründet wird der bisherige Rat zum Verzicht vor allem mit einem höheren Risiko für verschiedene Erkrankungen, in erster Linie Krebs. Auf der Internetseite der DGE ist zu lesen: "Wer viel rotes Fleisch und Wurst isst, hat ein höheres Risiko für Darmkrebs." Diese Einschätzung beruht auf wissenschaftlichen Studien. So hat im Jahr 2015 zum Beispiel eine Arbeit der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) der Weltgesundheitsorganisation WHO Schlagzeilen gemacht (Zusammenfassung als PDF).
Forscher hatten dafür mehr als 800 Studien ausgewertet. Zum Schluss ihrer Sitzung sahen sie genügend Belege, um verarbeitetes Fleisch – also gepökeltes, gesalzenes, fermentiertes oder geräuchertes – als "krebserregend" einzustufen. Unverarbeitetes rotes Fleisch hingegen, zu dem neben Rindfleisch auch das Muskelfleisch von Schwein, Schaf, Kalb, Lamm, Pferd oder Ziege gehören, stuften sie als "wahrscheinlich krebserregend" ein. Das Risiko für Darmkrebs erhöhe sich um 18 Prozent, wenn man täglich 50 Gramm verarbeitetes Fleisch verzehrt, und um 17 Prozent je 100 Gramm unverarbeiteten roten Fleischs, so das Ergebnis.
Die Forscher widersprechen fast allen Empfehlungen, die es gibt
Nun aber könnte alles ganz anders sein. Wissenschaftler aus mehreren Ländern haben sich zusammengetan, um die Studienlage zu den gesundheitlichen Effekten von Fleisch noch einmal grundlegend neu zu bewerten. Ziel dieses Zusammenschlusses – genannt NutriRECS – ist es, wissenschaftlich fundierte Empfehlungen im Ernährungsbereich zu erstellen – als Erstes jetzt eben für den Fleischkonsum.
Man könnte das – überspitzt gesagt – so interpretieren: Die bisherige Empfehlungen sind nicht gut genug, daher machen wir jetzt unsere eigene. Und diese Empfehlung hat es in sich: Die Gruppe kommt zu dem Ergebnis, dass erwachsene Menschen weiterhin so viel Fleisch und Wurst essen können wie bisher. Aus gesundheitlicher Sicht mache ein Verzicht wahrscheinlich wenig Sinn. Dieser Rat steht im Widerspruch zu den allermeisten Empfehlungen, die es zum Fleischkonsum auf der Welt gibt.
Das Team setzte sich zusammen aus Forschern der kanadischen Universitäten Dalhousie und McMaster sowie aus Experten der spanischen und polnischen Cochrane-Zentren. Cochrane ist ein internationales Netzwerk, das sich schon lange für wissenschaftsbasierte Entscheidungen im Gesundheitssystem einsetzt.
Entsprechend sorgfältig sind die Wissenschaftler bei ihrer Analyse der vorhandenen Literatur vorgegangen. In vier parallelen Studien untersuchten sie systematisch die vorhandenen Informationen. Dabei hatten sie vor allem einen möglichen Einfluss von rotem und verarbeitetem Fleisch auf Herzkrankheiten, Krebs und Diabetes im Fokus. In einer weiteren Studie analysierten sie zudem die Einstellung von Menschen bezüglich ihres Fleischkonsums.
Basierend auf diesen Ergebnissen, erarbeiteten 14 Wissenschaftler aus sieben Ländern Empfehlungen für den Konsum von rotem und verarbeitetem Fleisch. Diese insgesamt sechs wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlichten die Forscher am Montag im renommierten Fachmagazin "Annals of Internal Medicine". Allein dieses ungewöhnlich konzertierte Vorgehen spricht dafür, dass die Forscher sich eine durchschlagende Wirkung ihrer Ergebnisse erhoffen.
Viele Studien hatten methodische Mängel
Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass es keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse gibt, wie gefährlich Fleisch für den Menschen ist. Die Autoren haben lediglich die vorhandenen Studien neu bewertet – und zwar strenger, als die meisten Gruppen es bisher getan haben. So hatte sich etwa die IARC ausschließlich auf Beobachtungsstudien bezogen, als sie verarbeitetes Fleisch als krebserregend einstufte.
"Das ist seit jeher das Grundproblem von Ernährungsstudien", sagt Stefan Kabisch, Studienarzt am Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) in Potsdam-Rehbrücke. Bei solchen Studien wird durch Befragung im Nachhinein zum Beispiel eruiert, wie viel Fleisch Personen durchschnittlich in den vergangenen Jahren gegessen haben. Anschließend stellen Forscher durch mathematische Berechnungen Beziehungen zwischen dem Fleischkonsum und eventuellen gesundheitlichen Effekten her. "Eine Ursache-Wirkungs-Beziehung aber kann man damit grundsätzlich nicht beweisen, etwa dass Fleischkonsum Krebs auslöst", sagt Kabisch.
Trotzdem sind nach wie vor die meisten Studien so aufgebaut, denn nur mit ihnen lassen sich große Zeiträume überblicken. In drei der vier aktuellen Arbeiten analysieren die Forscher denn auch solche Kohortenstudien, in denen insgesamt mehrere Millionen Teilnehmer untersucht wurden.
Sie suchten aber auch gezielt nach Studien, in denen die Teilnehmer sich an eine bestimmte Ernährungsweise halten mussten, etwa drei Portionen Fleisch pro Woche weniger zu essen als bisher. In solchen Studien wird dann geprüft, ob Menschen aus dieser Gruppe zum Beispiel seltener an Krebs erkranken als jene, die weiter essen wie bisher.
Die Forscher fanden allerdings verblüffend wenige Studien, die ihren Suchkriterien entsprachen. Am Ende waren es nur zwölf von mehr als 13.000, die infrage kamen. Viele davon hatten zudem methodische Mängel. In einigen Fällen wurde zum Beispiel gar nicht explizit angegeben, ob die Teilnehmer an Krebs erkrankten oder einen Herzinfarkt bekamen, sondern die Forscher mussten sich mit Ersatzparametern begnügen, etwa dem Blutfettwert. Die meisten trennten zudem nicht zwischen rotem und verarbeitetem Fleisch. Das erschwerte die Analysen zusätzlich.
Den Ergebnisse kann man nicht trauen
Insgesamt fand sich kein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen Fleischkonsum und 13 verschiedenen Krebsarten, Diabetes oder Herzkrankheiten. Konkret hieß das, zum Beispiel bezogen auf das Risiko, an Krebs zu sterben: Wenn 1000 Personen ihr Leben lang jede Woche drei Portionen weniger rotes Fleisch essen als gewohnt, versterben nur sieben weniger als bisher an Krebs.
"Das bedeutet, dass nur etwa ein Prozent der Menschen von einer solchen recht weitgehenden Verhaltensänderung derart profitieren, dass sie nicht vorzeitig an Krebs versterben", sagt Jörg Meerpohl. Der Mediziner leitet das Institut für Evidenz in der Medizin an der Universität Freiburg und hat an der Empfehlung der NutriRECS-Gruppe mitgeschrieben. Ähnlich sind die Zahlen bei Typ-2-Diabetes und dem Risiko, an einer Herzkrankheit zu versterben. Nur bei Wurst und Diabetes war der Zusammenhang etwas stärker.
Außerdem – und das ist anders als bei bisherigen Studien – bewerteten die Forscher, wie stark man diesen Ergebnissen vertrauen kann. Sehr wenig, ist die Antwort. Weil sie kaum qualitativ hochwertige Studien fanden, werteten die Autoren ihre Ergebnisse als unsicher oder äußerst unsicher. Das könnte bedeuten, dass Fleischkonsum einen etwas größeren Einfluss auf die Gesundheit hat als angegeben, oder aber einen etwas kleineren. Vor allem aber bedeutet es: Die Studienlage ist katastrophal, und niemand kann daraus vernünftige Empfehlungen ableiten – eigentlich.
Kritik am Vorgehen der Forscher
Hier kommt die einzige der fünf Studien ins Spiel, die sich nicht mit Risiken befasst, sondern damit, welche Einstellung Menschen zum Fleischkonsum haben. Das Ergebnis in Kürze: Menschen essen Fleisch, weil sie es lecker finden, weil sie denken, es sei gesund und es müsse ein Teil ihrer täglichen Ernährung sein, oder auch weil sie unsicher sind, wodurch sie es ersetzen sollen. Jedenfalls, das schreiben die Autoren, wollen die meisten Menschen gar nicht auf Fleisch verzichten. Auch dann nicht, wenn man ihnen sagt, es sei schlecht für ihre Gesundheit.
Normalerweise spielen solche Einstellungen für Empfehlungen keine Rolle. Für die Autoren aber waren sie der entscheidende Punkt, um zu raten: Ihr könnt weiter Fleisch essen. Denn wenn die Wirkung von Fleischkonsum so klein ist wie beschrieben, wenn diese Wirkung auch noch äußerst unsicher ist und Menschen sowieso nicht auf Fleisch und Wurst verzichten wollen, dann – so die Argumentation – könne man ja auch empfehlen, weiter Fleisch zu essen.
Dieses Vorgehen ruft allerdings Kritik hervor. Bernhard Watzl, Leiter des Instituts für Physiologie und Biochemie der Ernährung am Max Rubner-Institut, sagt, er könne nicht nachvollziehen, warum die Autoren die Ergebnisse der untersuchten Studien so stark abgewertet hätten: "Es gibt so viel wissenschaftliche Beweise, dass ein Ernährungsmuster mit viel Fleisch das Risiko für Dickdarmkrebs, Herzkrankheiten und Diabetes erhöht."
Zwar sei unklar, ob das am Fleisch selbst liege. Wahrscheinlicher sei, dass sich Personen, die viel Fleisch essen, auch sonst eher ungesund ernährten – zum Beispiel wenige Ballaststoffe und viel Zucker zu sich nehmen. "Viel Fleisch bedeutet in 95 Prozent der Fälle eine ungesunde Ernährung", sagt Watzl.
"Puddingvegetarier" leben auch ungesund
Tatsächlich haben die Autoren versucht, auch solche Ernährungsmuster einzuberechnen. Aber viele Studien berücksichtigen nicht, wodurch die Teilnehmer das Fleisch ersetzen, das sie vom Speiseplan streichen. "Nicht weil eine Ernährungsform fleischlos ist, ist sie auch gleich gesünder", sagt DIfE-Forscher Stefan Kabisch.
So gebe es zum Beispiel den "Puddingvegetarier", der zwar kein Fleisch esse, aber stattdessen sehr viel Zucker. Umgekehrt müsse auch eine relativ fleischlastige Ernährung nicht zwingend ungesund sein, wenn sie mit wenig raffinierten Kohlenhydraten, viel Obst, Gemüse und Vollkorn einhergehe.
Und, auch wenn eine mediterrane Kost mit wenig rotem Fleisch und viel Gemüse in Studien generell als vorteilhaft gilt: Niemand kann sagen, ob das aufs Konto des fehlenden roten Fleischs geht oder vielmehr auf den Nahrungsmix an sich. "Wegen all diesen Faktoren gibt es gar keine Datengrundlage, um eine präzise Empfehlung zu rotem Fleisch zu geben", sagt Kabisch. Er sieht in der Analyse der Forscher daher vor allem ein Plädoyer für bessere Ernährungsstudien.
Das Klima spielt keine Rolle
Ein anderer Punkt allerdings ist durchaus umstritten: dass Klimaschutz und Tierethik bei den Empfehlungen keine Rolle spielen. "Ich frage mich: In welcher Zeit leben die Autoren?", sagt Watzl. Als Wissenschaftler habe man eine gesellschaftliche Verantwortung. "Da kann man nicht sagen, ich schaue mir nur die Effekte auf die Gesundheit an."
Meerpohl betont, man habe bei der Empfehlung bewusst keine gesellschaftliche Perspektive eingenommen, sondern eine individuelle: Was kann man dem Individuum aufgrund der Datenbasis raten? Persönlich allerdings könne er die Kritik teilweise nachvollziehen. "Mir fällt es gedanklich schwer, sich komplett von ethischen Überlegungen und dem Klimagedanken zu trennen", sagt Meerpohl. Auch aus diesen Gründen habe er als einer von drei Forschern gegen die Empfehlung gestimmt, in gewohntem Umfang weiter Fleisch zu essen.
Er sorgt sich auch darum, dass die Botschaft in der Öffentlichkeit undifferenziert verbreitet wird. "Es wäre unglücklich, wenn nur rüberkommt, dass jeder einfach weiter soviel Fleisch essen soll wie bisher."
Fleisch essen oder nicht?
Was also soll man tun? Ob Fleisch und Wurst per se Krebs, Herzinfarkte oder Diabetes auslösen, ist fraglich. Es kommt wohl vor allem darauf an, was man dazu oder stattdessen isst. Schaden, da sind sich Kabisch, Watzl und Meerpohl einig, kann es aber keinesfalls, weniger Fleisch zu konsumieren. Aus gesundheitlichen Gründen knallhart darauf zu pochen, wie es die Leitlinien weltweit tun, gibt die Datenlage aber nicht her.
Vielleicht, das schreiben die Wissenschaftler Aaron Carroll und Tiffany Doherty in einem begleitenden Artikel in den "Annals of Internal Medicine", sei es Zeit, der Öffentlichkeit besser zu kommunizieren, wie unsicher viele Ergebnisse von Ernährungsstudien in puncto Gesundheitseffekte tatsächlich sind. Schließlich können auch ökologische oder ethische Motive Menschen dazu bewegen, ihr Verhalten ändern – auch das ist ein Ergebnis der Studie.
Wer also – aus welchen Gründen auch immer – schon versucht, weniger Fleisch zu essen, muss nicht damit aufhören. Und für alle anderen gilt: Es gibt noch mehr Gründe als ein – vielleicht – leicht verringertes Krebsrisiko, auch mal Gemüse auf den Teller zu legen.