Tumorrisiken: Wurstsalat und andere Krebsgefahren
Schinken, Mobiltelefone, Kaffee: Die Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation fällt durch schräge Urteile zu Tumorrisiken auf. Ein Kommentar.
Es liegt wohl in der Natur des Menschen, die Welt zweigeteilt zu sehen. Gut und Böse, Freund und Feind, Hertha BSC und der Rest der Liga. Auch die Internationale Agentur für Krebsforschung, kurz IARC, macht da keine Ausnahme. Sie unterscheidet zwischen „krebserregend“ (karzinogen) und „nicht krebserregend“. Dabei fällt das Urteil der IARC, die in Lyon ansässig ist und der Weltgesundheitsorganisation (und damit der UN) untersteht, ziemlich einseitig aus.
Knapp 1000 Verdachtsfällen sind die IARC-Gutachter in Jahrzehnten nachgegangen. Doch nur in einem einzigen kamen sie zu dem Schluss, dass eine Substanz „vermutlich nicht krebserregend“ ist – Caprolactam, ein Grundstoff der Plastikindustrie. Alle anderen stehen mehr oder weniger unter Krebsverdacht. Auch wenn bei vielen Angeklagten noch kein Urteil gefällt wurde, weil es an Beweisen mangelt.
Kritik gilt als "unfair und nicht konstruktiv"
Das ist nur eine der Merkwürdigkeiten um die IARC. Schwerer wiegt, dass Bewertungen der Agentur verwirrend, veraltet und verzerrt sind. Die IARC macht den Eindruck einer schon reichlich tüdeligen alten Dame, bei der man nicht weiß, was sie als Nächstes für Verrücktheiten anstellt. Dazu passt, dass die IARC-Gutachter dazu neigen, sich zu überschätzen und Kritik an ihrer Arbeit als „unfair und nicht konstruktiv“ zurückweisen.
Völlig zu Recht hagelte es „nicht konstruktive“ Kritik, als die IARC vor Kurzem ihr Verdikt zu Fleisch und Wurst bekannt gab: Verarbeitetes Fleisch (Wurst, Schinken) ist krebserregend, rotes Fleisch (Schwein, Rind, Lamm) vermutlich. Wurst befindet sich damit in der gleichen Gefahrenkategorie wie das Megarisiko Tabak. Entsprechend groß war die Verunsicherung der Verbraucher.
Der Grund für die Einstufung liegt darin, dass die Klassifizierung der IARC nicht etwa bewertet, wie groß das Krebsrisiko ist, sondern, wie stichhaltig die wissenschaftliche Beweislage ist. Ausschlaggebend ist nicht die Höhe des Risikos, sondern, ob es existiert. So rangieren in der höchsten IARC-Kategorie 1 (karzinogen für den Menschen) Tabak, Wurst und Alkohol friedlich neben der „Pille“, Sonnenlicht und Plutonium. Warum aber nehmen die Gutachter nicht die Zellteilung in ihren Gefahrenkatalog auf? Erbgut-Kopierfehler führen viel häufiger zu Krebs als alle Kategorie-1-Substanzen zusammen. Zellteilung ist das Risiko aller Risiken!
Die Agentur ist "konfusionserregend für den Menschen"
Die IARC sei „konfusionserregend für den Menschen“, spottete das amerikanische Magazin „The Atlantic“ nach dessen Fleisch-Urteil. Kurios war der Vorgang auch deshalb, weil ein gering erhöhtes Tumorrisiko durch Fleisch- und Wurstverzehr längst zu den wenigen Gewissheiten beim Thema Krebs und Ernährung gehört. Die IARC, die sich als Avantgarde unter den Krebs-Spürhunden sieht, hatte nur auf ihre chaotische Weise Altbekanntes aufgewärmt.
Hinzu kommen höchst fragwürdige Einstufungen. So machten die Gutachter kürzlich von sich reden, als sie das Pflanzenschutzmittel Glyphosat anders als Expertengremien zuvor und danach in die Kategorie 2A („vermutlich krebserregend“) einordneten. Starke Behauptungen brauchen starke Argumente. Die hatte die IARC aber nicht. Die von ihr zitierten Studien rechtfertigten die Einordnung nicht. Seltsam auch die Einschätzung, die „Strahlung“ von Mobiltelefonen sei „möglicherweise krebserregend“ (Kategorie 2B), obwohl Untersuchung um Untersuchung keine Belege für ein Tumorrisiko liefert. In die gleiche Kategorie sortierten die Lyoner Krebsfahnder 1991 Kaffee ein. Seitdem weisen viele Studien in die gegenteilige Richtung – Kaffee kann vor Krebs schützen. Doch die IARC rührt sich nicht.
Das Karzinogen als Fetisch
Als die IARC vor rund vierzig Jahren begann, Krebsrisiken zu bewerten, war das Wissen um diese Krankheit begrenzt. Damals nahmen Forscher noch an, dass ein Schutz vor krebserregenden Stoffen die Menschheit weitgehend vor dem Leiden bewahren würde. Das Karzinogen war die „Essenz“ des Krebses.
Das war eine vereinfachte Sicht der Dinge, wie wir heute wissen. Viele weitere Faktoren sind beim Entstehen von Tumoren wichtig, etwa das Lebensalter, die genetische Ausstattung, das Immunsystem und der Zufall. Auch die molekularen Prozesse am Beginn des zerstörerischen Zellwachstums werden besser verstanden. All das ficht die IARC nicht an. Sie tut so, als hätten wir noch immer 1975.