Lehren aus der Pisa-Studie: Integrationsforscher erklärt die größte Herausforderung an deutschen Schulen
Was lässt sich aus Pisa lernen? Hacı Halil Uslucan über den Umgang mit Risikoschülern, mit Heterogenität im Klassenzimmer und überambitionierten Eltern.
Hacı Halil Uslucan ist Psychologe und seit 2010 wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen.
Herr Uslucan, bei der aktuellen Pisa-Studie lassen die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler aus Deutschland nach. Wie bewerten Sie das Ergebnis?
Die Ergebnisse zeigen, dass zwei zentrale Baustellen noch nicht erledigt sind. Zum einen hängen Schülerleistungen weiterhin sehr stark vom symbolischen und vom materiellen Kapital der Eltern ab, also davon, was sie an Bildung und Geld in ihre Kinder investieren können.
Zum anderen sind Schulen an sozioökonomisch schlechter gestellten Standorten schlechter ausgestattet und haben einen deutlich höheren Stundenausfall als "gute" Schulen. Die Bildungspolitik in Deutschland muss endlich flächendeckend gleiche Chancen gewähren.
Besorgniserregend ist vor allem, dass sich der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulerfolg sogar wieder deutlich verstärkt hat. Warum will die Entkoppelung auch fast 20 Jahre nach der ersten Pisa-Studie nicht gelingen?
Nimmt man nur diese Perspektive ein, hat sich tatsächlich nicht viel getan. Die Schere zwischen Jugendlichen aus der bürgerlichen Mittelschicht und aus sozial benachteiligten Milieus, was oftmals mit einem Migrationshintergrund verbunden ist, bleibt offen.
Auf der anderen Seite ist aber der Anteil der Abiturienten aus Zuwandererfamilien in den letzten 15 Jahren von 20 auf heute 28 Prozent gestiegen. Es gibt also positive Veränderungen. Allerdings ist die Abiturquote der Kinder aus bildungsnahen Familien noch stärker gestiegen, auf etwas über 40 Prozent. Das führt dazu, dass Migranten weiterhin als Verlierer gesehen werden, obwohl sie sich anstrengen.
Hervorgehoben wird immer die „Risikogruppe“: Das sind die 15-Jährigen, die bestenfalls das unterste Kompetenzniveau beim Lesen erreichen. Diese Gruppe hat sich aktuell sogar vergrößert, in allen getesteten Bereichen liegt ihr Anteil inzwischen bei mindestens 20 Prozent, im Lesen sogar bei 21 Prozent. Was läuft da falsch?
Für Jugendliche, die aus einem bildungsfernen – eigentlich bildungssystemfernen, weil sie Bildung nicht prinzipiell ablehnen – und womöglich noch türkisch- oder arabischsprachigen Elternhaus kommen, sollte man diesen Befund nicht dramatisieren. Die einzelnen Schüler und Schülerinnen, die daraufhin keine guten Leistungen in Deutsch bringen, sind nicht zu kritisieren.
Die Frage ist doch, wie diese Lücke durch intensive Sprachförderung kompensiert werden kann. Sie muss so früh wie möglich, in der Krippe bei den unter Dreijährigen einsetzen. Hier liegt das Potenzial, mehr migrantische Eltern zu überzeugen, dies in Anspruch zu nehmen. Dann werden die Kinder die Schule nicht als Sprach-Versager betreten.
Bildungspolitiker betonen, dass teilweise wissenschaftlich überprüfte Konzepte fehlen, wie sozial benachteiligte Schüler ihren Lernrückstand aufholen können. Können Sie das nachvollziehen?
Für die Leseförderung immerhin ist es weitgehend Konsens, dass sie sich positiv auf die Schulleistungen in Deutsch, aber auch in anderen Fächern auswirkt. Wenn wir uns auf die Sprachförderung fokussieren, werden jedoch andere Faktoren wie das sozioökonomische Umfeld der Schule, eine schlechte Ausstattung und die soziale Deprivation der Kinder vernachlässigt.
Dass ein 13-jähriger Mehmet in der Schule nicht schlechter ist, weil er Türke ist, sondern weil er aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammt, sollte inzwischen zum Allgemeinwissen gehören. Aber in Teilen der Öffentlichkeit wird pauschalisierend das Türkische oder das Arabische verantwortlich gemacht.
Eine Studie des Mercator-Instituts hat gezeigt, dass Lehrkräfte noch immer nicht auf die Vielfalt im Klassenzimmer vorbereitet sind. Wie müsste ein angemessener Umgang mit Heterogenität im Studium vermittelt werden?
Statt das an der einzelnen Lehrkraft festzumachen, ist die Bildungspolitik gefordert. Rund 30 Prozent der 15-Jährigen hierzulande haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Da ist es ein Unding, dass es an der Mehrzahl der Universitäten, die Lehrkräfte ausbilden, keine Professuren für ethnische Heterogenität oder für interkulturelle Pädagogik gibt.
Insgesamt ist die noch immer starke Mittelschichtorientierung der Schule an den Eltern vorbeiadressiert. Wenn Lehrkräfte mit nicht gut Deutsch sprechenden Eltern im Befehlston kommunizieren oder sie infantilisieren – „Du das sagen deinem Kind“ – kommen sie beim zweiten Elternabend nicht mehr.
Es kommt immer wieder zu Klagen aus den Schulen, dass guter Unterricht bei „90 Prozent Arabern in der Klasse“ nicht möglich sei. Die Schuld daran wird angeblich unbeschulbaren Jugendlichen gegeben. Gibt es ein Milieu, das sich auch von wohlmeinenden Lehrkräften nicht erreichen lässt?
Empirisch kommt der Fall durchaus vor – wenn die soziale Lage der Familie und der Aufenthaltsstatus so prekär sind, dass Bildungsfragen nachrangig erscheinen. In der Mittelschicht gilt Bildung als langfristige Investition, in anderen sozialen Lagen kann das schnelle Geld mehr zählen.
Bildung erfährt aber auch in bildungssystemfernen migrantischen Milieus eine hohe Wertschätzung. Wer allerdings selber nur eine lückenhafte Bildungsbiografie hat, kann bei allem guten Willen seinen Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen. Das wäre dann die qualifizierte Aufgabe der Schule.
Wie können Schulen denn einen besseren Draht zu den Eltern aufbauen?
Sie können beispielsweise Brückenfiguren anbieten, gut Deutsch sprechende Eltern mit Migrationshintergrund, die beim Gespräch mit den Lehrkräften dabei sind. Dann fühlen sich bislang schulferne Eltern besser, weil nicht mehr die Hälfte an ihnen vorbeirauscht.
In Grundschulen hilft es schon, wenn das Kind die Botschaften der Lehrerin überbringt, etwa einen Zettel schreibt: Mama, kannst du zu mir in die Schule kommen? Was gar nicht geht: Im Sommer zum Elterntreff in den Biergarten einzuladen, da kommen muslimische Eltern nicht.
Über die Strategien in Klassen nahezu ohne Kinder mit Deutsch als Familiensprache wird diskutiert. Wozu raten Sie?
Zentral ist es, die Stärken von Schülern herauszustreichen und nicht nur die Schwächen. Selbstverständlich sollen Schüler in der Schule Deutsch lernen und sprechen. Wenn aber gleichzeitig Türkisch, Arabisch oder Russisch – und nicht nur die Fremdsprachen mit hohem Prestige – angeboten werden, ist das ein Zeichen der Wertschätzung.
Lehrer sollten auch nicht ausgrenzen, indem sie Erstklässler fragen: Wer von euch spricht Deutsch. Besser ist die Frage: Wer ist einsprachig, wer ist mehrsprachig? Ein deutsches Kind, das einen Wortschatz von 3000 Wörtern hat und ein türkisches 1500 Wörter auf Deutsch und 1500 auf Türkisch in seinem mentalen Lexikon sind mindestens gleichwertig. Das türkische Kind wird aber in der Schule als weniger weniger klug gesehen.
Lehrkräfte in Berliner Brennpunktschulen propagieren eine strenge Disziplin. Entspricht das Ihrer Erfahrung?
Disziplinförderung muss immer am individuellen Bedarf des Kindes orientiert sein. Bei unruhigen Kindern kann ein strenges Classroom Management mittelfristig dazu führen, dass sie ihre Emotionen besser kontrollieren. Und selbstverständlich muss eine Lehrkraft Kindern, die ständig stören, Grenzen setzen. Doch gleichzeitig gilt: Bei anderen Kindern in der Klasse, insbesondere bei den Mädchen, kann strenge Disziplin schädlich sein. Sie dürfen nicht mit „verhaftet“ werden.
[Mehr zur aktuellen Pisa-Studie:
- Ein Kommentar zum deutschen Abstieg bei Pisa: Lernt endlich, kein Kind zurückzulassen
- Ein Überblick über die Ergebnisse von Pisa 2018: Deutsche Schüler lassen wieder nach]
Der Pisa-Studie zufolge haben insbesondere benachteiligte Schülerinnen und Schüler weniger ehrgeizige Ziele als das angesichts ihrer schulischen Leistungen zu erwarten wäre. Wir erklären Sie sich das?
Ein Aspekt könnte sein, dass sie nicht immer den nötigen Rückhalt von Eltern und Lehrkräften haben - im Sinne von: Du schaffst das. Auch die Anstrengungsbereitschaft ist kein unendliches Reservoire. Es braucht ein tragendes Netz, und das fehlt diesen Jugendlichen oft.
Andere Umfragen zeigen aber auch, wie hoch die Bildungsambitionen migrantischer Elternhäuser sind. „Zu hoch“, heißt es dazu oft. Wie lässt sich der Ehrgeiz der Eltern in Bildungserfolge übersetzen?
Es gibt wohl kaum einen Aspekt in der pädagogischen Psychologie, der in der Wissenschaft so unbestritten ist, aber in der öffentlichen Kommunikation so verzerrt diskutiert wird. Auch wenn Eltern ihre hohen Aspirationen nicht mit der dazu notwendigen Förderung begleiten können: Es ist doch gut, dass sie sie haben. Schlechter wäre die Haltung: Aus mir ist nichts geworden, da brauchst du es gar nicht zu versuchen.
Lehrkräfte sollten Eltern, die ihre Kinder als Ärztinnen, Anwälte oder Ingenieure sehen, fragen: Was können wir tun, damit Ihr Kind das schafft? Und den Kindern sagen: Guck’ mal, deine Eltern trauen dir das zu. Das erzeugt positive Selbstwirksamkeit. Manchen Eltern fehlt die Kenntnis des deutschen Ausbildungssystems. Sie sollten in der Schule ihrer Kinder erfahren, welche Aufstiegschancen auch Techniker haben. Mein Sohn wird Arzt, steht als Chiffre für einen guten Beruf und ein gutes Leben.
Amory Burchard, Tilmann Warnecke
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