Expansion des Weltalls: Immer Trouble mit Hubble
Wenn eine physikalische Konstante zwei Werte annimmt, ist das ein Problem. Dem Kosmos selbst scheint es zwar egal zu sein, doch die Kosmologen verzweifeln.
1,3 Milliarden Sterne! Der Satellit „Gaia“ hat diese Riesenzahl von Sonnen der Milchstraße zwei Jahre vermessen und ihre Daten zur Erde übermittelt. Im April 2018 machte die Europäische Weltraumagentur ESA diese Informationen öffentlich. Und Astronomen begannen sofort, mit ihnen zu rechnen.
Nur 380 000 Jahre nach dem Urknall! Der Satellit „Planck“ hat es geschafft, derart weit in die Vergangenheit des insgesamt fast 14 Milliarden Jahre alten Universums zurückzublicken. So lieferte er ein Bild des extrem jungen Weltalls, aus dem sich dann auch die gesamte kosmische Geschichte seither gut berechnen lässt. Eine solche Berechnung stellte ein Konsortium europäischer Wissenschaftler am 17. Juli vor.
Zwei genaue Berechnungen, zwei sehr unterschiedliche Ergebnisse
Zwei Satelliten. Zwei Datensätze. Zwei Berechnungen. Beides europäisch. Aber nicht einig. Denn aus den Daten ergeben sich zwei unterschiedliche Zahlen für ein und dieselbe kosmische Konstante. Das darf eigentlich nicht sein. Und niemand weiß, warum es trotzdem so kam, und was es bedeutet.
Der Reihe nach: Alle Sterne, die Gaia jetzt katalogisiert hat, gehören zu den Sternen unserer Heimatgalaxis namens „Milchstraße“, einer Wolke aus schätzungsweise 200 Milliarden Sonnen. Die Gaia-Daten liefern aber auch Hinweise auf die Geschichte des gesamten Kosmos. Die am 17. Juli vorgestellten Berechnungen aus den Daten, die vom kürzlich abgeschalteten Satelliten „Planck“ stammen und pathetisch „Planck-Vermächtnis“ tituliert wurden, tun das auch. Sie beschreiben sogar die Geschichte des Kosmos besser als alles zuvor Dagewesene.
„Das Bild des Universums, das ,Planck‘ geliefert hat, ist so genau, dass wir mit ihm akribisch alle unsere Vorstellungen und Mutmaßungen über den Ursprung und die Entwicklung des Kosmos überprüfen können“, sagt Jan Tauber, Projektwissenschaftler der Planck-Mission. Doch diese Überprüfung und ihr Abgleich mit Berechnungen aus den Gaia-Daten bestätigt, was Kosmologen seit geraumer Zeit geahnt haben: Der Kosmos scheint sich geometrisch nicht so entwickelt zu haben, wie es seine Jugendeigenschaften erwarten ließen. Oder in den Worten des Nobelpreisträgers Adam Riess: „Das Spannungsverhältnis zwischen unseren Vorstellungen des jungen Kosmos und seines heutigen Zustands ist offenbar zu vollständiger Unvereinbarkeit angewachsen.“
Schon seit rund 100 Jahren ist bekannt, dass außer der Milchstraße Abermilliarden weiterer Galaxien durch den Kosmos treiben, in denen ebenfalls jeweils Hunderte Milliarden Sterne strahlen. Zwischen den einzelnen Galaxien klaffen riesige Räume. Schon die Nachbargalaxie der Milchstraße – man kann sie in klaren Herbst- und Winternächten gerade so mit bloßem Auge als Lichtwölkchen im Sternbild „Andromeda“ erkennen – ist rund 2,5 Millionen Lichtjahre entfernt.
Expansion, aber wie schnell?
1929 entdeckte der Astronom Edwin Hubble mit dem damals größten Teleskop der Erde eine Besonderheit des Lichts aus fernen Galaxien: Es kommt mit größeren Wellenlängen bei uns an, als die Sterne in diesen Galaxien es Millionen oder Milliarden Jahre zuvor abgestrahlt haben. Die heute allgemein anerkannte Interpretation dieser „Rotverschiebung“ des Galaxienlichts lautet, dass die riesigen Räume zwischen den Galaxien stetig größer werden. Während das Licht aus einer fernen Galaxie zu uns unterwegs ist, zieht der expandierende Raum auch diese Lichtwellen zu immer größeren Wellenlängen auseinander.
Der belgische Priester und Astronom Georges Lemaître erkannte als Erster, was die stetig wachsenden Weiten im Umkehrschluss bedeuteten: Je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht, desto kleiner müssen dann auch die kosmischen Räume gewesen sein. Und wenn man weit genug zurückdenkt, gelangt man zu einem Kosmos, dessen Räume theoretisch noch keinerlei Ausdehnung besaßen. Als „Urknall“ wird dieser Startpunkt heute bezeichnet.
So schwierig die theoretische Erklärung der Urknall-Geburt des Kosmos nach wie vor auch sein mag, so prinzipiell einfach müsste sich doch die Frage, wie schnell sich seither die Räume des Kosmos aufblähen, beantworten lassen. Eine konstante Geschwindigkeitsangabe ist als Antwort zwar nicht möglich. Die Galaxien sind schließlich sehr unterschiedlich weit entfernt. Und die von der Expansion des Raumes gedehnten Wellenlängen des bei uns ankommenden Lichts der Galaxien zeigen es eindeutig: Je weiter eine Galaxie schon jetzt entfernt ist, desto schneller vergrößert sich der Raum zwischen ihr und irdischen Beobachtern stetig weiter. Nur eine Geschwindigkeitsangabe bezogen auf diesen jeweiligen Abstand ist also möglich.
Die Eichkerzen des Weltraums
Vor zwei Jahren hat ein Team US-amerikanischer Kosmologen um jenen Adam Riess den bis dahin genauesten Wert für eine solche Expansionsrate des Kosmos berechnet. Demnach liegt der sogenannten Hubble-Parameter – auch Hubble-Konstante genannt – bei 73,24 Kilometer je Sekunde pro Megaparsec. Das bedeutet: Sind zwei Galaxien im Kosmos ein Megaparsec (3,26 Millionen Lichtjahre) voneinander entfernt, expandiert der Raum dazwischen mit einer Geschwindigkeit von 73,24 Kilometern pro Sekunde. Bei doppeltem Abstand der Galaxien ist auch die Expansionsgeschwindigkeit zwischen ihnen doppelt so hoch, und so weiter.
Die Berechnung des Hubble-Parameters beruht unter anderem auf der möglichst genauen Kenntnis der Entfernungen der Galaxien. Deshalb konzentrierten sich Riess und seine Kollegen auf Galaxien, in denen das nach ebenjenem Hubble benannte Weltraumteleskop Cepheiden-Sterne aufgespürt hatte. Denn die sind sogenannte „Standardkerzen“: Astronomen wissen schlicht ziemlich genau, wie viel Licht ein Cepheide abstrahlt. Wenn man also in irgendeiner fernen Galaxie einen Cepheidenstern – der sich durch typische kleine Helligkeitsschwankungen verrät – entdeckt, dann kann man aus der Messung der Lichtmenge, die von ihm bei uns ankommt, direkt seine Entfernung berechnen. Und damit kennt man auch die Entfernung der Galaxie, in der er leuchtet.
Unter den 1,3 Milliarden Sternen der Milchstraße, deren Distanzen der Gaia-Satellit mit bisher unerreichter Präzision vermessen konnte, befinden sich auch viele Cepheiden-Sterne. So konnte man deren Leuchtkraft jetzt noch genauer bestimmen. Kaum waren die Daten da, haben Riess und seine Kollegen mit den so neu kalibrierten Leuchtkräften der Cepheiden die Entfernungen von 19 Galaxien erneut berechnet, in denen das Hubble-Teleskop andere Cepheiden beobachtet und ihre Helligkeiten gemessen hatte. Daraus wiederum erhielten sie einen neuen Wert für den Hubble-Parameter, den sie am 12. Juli im „Astrophysical Journal“ veröffentlichten: 73,52 Kilometer je Sekunde pro Megaparsec – also fast identisch mit dem alten Wert. Laut Riess ist er nun sehr genau, bei höchstens zwei Prozent könnte die Fehlerbreite liegen.
Die Daten von „Planck“ allerdings ergeben mit 67,36 einen deutlich kleineren Wert für den Hubble-Parameter, die mögliche Fehlerbreite soll mit maximal ein Prozent sogar noch kleiner sein. Der Satellit registrierte im expandierenden jungen Kosmos viele Regionen unterschiedlicher Temperatur und Dichte. Aus deren Größe errechneten die Astronomen die Expansionsrate des jungen und jetzigen Kosmos. Dabei mussten sie aber verschiedene zusätzliche Einflüsse ins Kalkül ziehen, welche die kosmische Expansionsrate im Laufe der Zeit verändert haben. So hat zum Beispiel Adam Riess 1998 völlig überraschend entdeckt, dass sich die Expansion des Kosmos seit einigen Milliarden Jahren beschleunigt. Der medienwirksame Name „Dunkle Energie“ verbirgt nur mühsam die völlige Ahnungslosigkeit der Astronomen darüber, welche Ursache das hat. Mit der „Dunklen Materie“, deren anziehende Gravitation überall im Kosmos sichtbar wird und die vermutlich auch seiner Expansionsbeschleunigung entgegenwirkt, ist es ähnlich.
"Vollkommen verblüfft"
Wenn man bei der Berechnung der Expansionsgeschichte des Kosmos alle bisher bekannten beschleunigenden und bremsenden Faktoren berücksichtigt, erhält man das sogenannte Standardmodell der Kosmologie. Das von „Planck“ aufgenommene Jugendbild des Kosmos und seine aus ihm herausgelesenen Eigenschaften bestätigen das kosmologische Standardmodell nahezu in jeder Hinsicht – mit Ausnahme der Expansionsrate.
Da stehen sie sprichwörtlich im expandierenden Raum, die beiden Werte von 67,3 und 73,5. Es sei, sagt Riess, als würde man mit einer Wachstumstabelle vorhersagen, wie groß ein Kind werden wird, und dann feststellen, dass der Mensch die Erwartungen weit übertroffen hat: „Wir sind vollkommen verblüfft.“
Astronomen spekulieren nun über eine weitere unbekannte dunkle Macht X im Kosmos, die dann aber vielleicht das Standardmodell zum Auslaufmodell machen würde. Andere hoffen schlicht, dass sich doch noch irgendein bislang unerkannter Messfehler finden und den Unterschied erklären wird. Nichts könnte besser veranschaulichen, wie nah der Verzweiflung die Welterklärer in ihrem Trouble mit der Konstante von Hubble sind.