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Mission Milchstraße. Die Sonde Gaia ist eines der ambitioniertesten und auch bereits erfolgreichsten Projekte der europäischen Raumfahrtbehörde Esa.
© Illustration: ESO/S. Brunier

Die-Sonde Gaia ermöglicht eine "neue Astronomie": Die Spur der Sterne

Ein Satellit der Europäischen Weltraumagentur Esa vermisst extrem präzise die Milchstraße. Auch das Rätsel der „Dunklen Materie“ soll er lösen.

Eher bescheiden muten die Anfänge aus heutiger Sicht an: Die ersten Astronomen, von denen überliefert ist, dass sie Kataloge der Sterne am Himmel anlegten, waren Timocharis von Alexandria um 300 vor Christus und Hipparch von Nicäa gut 150 Jahre später. Letzterer soll etwa 900 Sterne katalogisiert haben. Inzwischen ist man bei 1,3 Milliarden allein in unserer Milchstraße. Der Sternenkartierer der Gegenwart heißt Gaia.

Das ist vermessen: 1,3 Milliarden Sterne

Seit rund vier Jahren ist dieser Satellit der europäischen Weltraumagentur Esa gemeinsam mit der Erde auf einer Sonnenumlaufbahn. Im April erschien der bislang zweite Gaia-Sternkatalog. Er enthält die Daten jener rund 1,3 Milliarden Sterne unserer Milchstraße – was immerhin etwa einem Prozent aller dort erwarteten Sterne entspricht – und noch einmal gut 400 Millionen anderer Objekte. Allein um die von Gaia katalogisierten Sterne zu zählen, bräuchte ein Mensch – bei pro Sekunde einem Stern und ohne Pause – rund 40 Jahre. Die Präzision, mit der Gaia die Positionen der Himmelskörper messen kann, ist ähnlich beeindruckend: Die Sonde „sieht“ so scharf, dass sie das tägliche Wachstum eines menschlichen Haares noch aus einer Entfernung von 2000 Kilometern messen oder bei einem Menschen, der 40-mal weiter entfernt ist als der Mond, noch Kopf und Beine unterscheiden könnte.

Die von Gaia gesammelten Daten seien voller Informationen, die die Astronomie in nahezu allen ihren Teilgebieten bereichern würden, so der wissenschaftliche Direktor der ESA, Günter Hasinger. Und Astronomen machten sich auch sofort daran, diese Schätze zu heben: Schon fünf Stunden nach der Freischaltung der Gaia-Daten wurde der erste sie nutzende wissenschaftliche Artikel veröffentlicht.

Neue Sonde, alte Messmethode

Doch es könnte Jahrzehnte dauern, ehe alles einigermaßen ausgewertet sein wird. Zu den wichtigsten Informationen in den Gaia-Daten gehören die Entfernungen der beobachteten Sterne. Die Messmethode ist im Grunde noch die gleiche, mit der schon der Astronom Friedrich Wilhelm Bessel 1838 auf der Sternwarte in Königsberg zum ersten Mal die Entfernung eines Sterns messen konnte: Weil die Erde um die Sonne kreist, verändert sich die Blickrichtung zu jedem Stern im Laufe eines Jahres. Dabei liegen die verschiedenen Positionen der Erde, von denen aus die Sterne angepeilt werden, immerhin bis zu 300 Millionen Kilometer auseinander.

Doch weil selbst die Nachbarsterne der Sonne schon sehr weit entfernt sind, sind die Winkel, um die sich die Sterne aus Erdperspektive hin- und herbewegen, winzig klein. Sie entsprechen maximal denen, um die sich die Spitze des Berliner Fernsehturms verschiebt, wenn man beim Blick vom Alexanderplatz hinauf auf sie den Kopf um Bruchteile eines Millimeters bewegt.

Bei „61 Cygni“ im Sternbild Schwan zum Beispiel, den sich Bessel als ersten vorgenommen hatte, maß er einen Stern-Verschiebungswinkel – Parallaxe genannt – von nur etwa 0,3 Bogensekunden. Eine Bogensekunde ist der 3600ste Teil eines Grads. Aus dem winzigen Winkel, um den sich der Blick zu „61 Cygni“ hin- und herbewegt, konnte Bessel trigonometrisch direkt die dazugehörende Entfernung dieses Sterns berechnen: rund 100 Billionen Kilometer. Er lag mit seiner Berechnung nur wenig neben dem, was inzwischen deutlich präziser gemessen werden kann. Und er war auch der Erste, der zur Veranschaulichung die Zeit, die Licht für diese Strecke braucht, verwendete: etwa elf Jahre.

Bei Sternen, die mehr als 30-mal weiter entfernt sind – also mehr als 300 Lichtjahre –, werden ihre winzigen parallaktischen Verschiebungswinkel von der irdischen Lufthülle bis zur Unkenntlichkeit verschmiert. Sie können so nicht mehr präzise vermessen werden. 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt, weit außerhalb ihrer Atmosphäre, fällt das Licht der Sterne jedoch völlig ungestört in das Spiegelteleskop von Gaia. Da die Sonde sich langsam vier Mal pro Tag dreht, wandern tagtäglich die Bilder von rund 40 Millionen Sternen gestochen scharf über die CCD-Detektoren ihrer Kamera mit nahezu einer Milliarde Pixeln.

Im Laufe der Zeit werden dabei die Positionen der Sterne jeweils bis zu 70-mal gemessen. So entstehen mit der Zeit aus den präzisen Sternpositionen zu all diesen Zeitpunkten die Spuren der Sterne als winzige „Parallaxen-Kringel“. Sie ergeben sich, weil Gaia – wie einst Bessel – gemeinsam mit der Erde um die Sonne unterwegs ist und deshalb die räumliche Anordnung der Sterne im Laufe eines Jahres aus unterschiedlichen Perspektiven wahrnimmt.

Die Sterne der Milchstraße driften in der gleichen Strömung dahin

Je kleiner sein Parallaxen-Kringel ausfällt, desto weiter ist ein Stern entfernt. Die mathematische Auswertung der Daten verrechnet die unterschiedlichen Parallaxengrößen zu einem dreidimensionaler Atlas, der präzise die räumliche Verteilung jener 1,3 Milliarden Sterne innerhalb der Milchstraße zeigt. Bis zu 10 000 Lichtjahre sind diese entfernt.

Aus den wiederholten präzisen Positionsangaben der Sterne treten aber nicht nur ihre parallaktischen Verschiebungen hervor. Die Daten enthüllen auch ihre realen Eigenbewegungen. Denn alle Sterne der Milchstraße driften in einer gemeinsamen Strömung, aber mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, um die Mitte der Milchstraße herum. Unsere Sonne mit ihren acht Planeten zum Beispiel rast mit über 200 Kilometern pro Sekunde durch die mittleren Bezirke der Milchstraße um ihr Zentrum. Jeder Stern bewegt sich dabei im Banne der Gravitationskräfte, die alle übrigen Sterne und sonstige Materie der Milchstraße auf ihn ausüben. Die Bahnen und Geschwindigkeiten der von Gaia vermessenen Sterne zeigen also das Wechselspiel der Gravitationskräfte in unserer Milchstraße so genau wie nie zuvor. Umgekehrt kann man aus dem Gravitationsmuster auf die Lage und Form des von überdurchschnittlich vielen Sternen gefüllten zentralen „Balkens“ der Milchstraße schließen. Zudem wurde sichtbar, wie sich von diesem Balken ausgehend Spiralarme durch die Milchstraße winden, die ebenfalls viel Materie in Form von Gas, Staub und Sternen enthalten.

Darüber hinaus erwarten die Forscher, dass sie im Muster des galaktischen Gravitationsfeldes auch den Gravitationsbeitrag der mysteriösen sogenannten „Dunklen Materie“ und deren Verteilung in der Milchstraße und um sie herum erkennen werden. Aus der heutigen Balken-Spiral-Struktur der Milchstraße und der gestaltenden Gravitationsdynamik der Dunklen Materie hoffen die Forscher, die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte unserer Heimatgalaxie besser verstehen zu lernen. Schon jetzt lassen die Daten in manchen Milchstraßenregionen vorher unbekannte regionale Störungen der Sternbewegungen erkennen. Ursache sind vermutlich ehemalige Zwerggalaxien, die einst in die Milchstraße eingewandert sind, die dadurch viele Sterne aus ihrer Bahn geworfen haben.

Blaue Sterne sind heißer als rötliche

Gaia misst zusätzlich auch die Helligkeit des jeweiligen Sternenlichts. Die Entfernung des Sterns ermöglicht es dann, zurückzurechnen, wie viel Licht ihn tatsächlich verlassen hat. Darüber hinaus misst Gaia photometrisch, wie viel rotes und wie viel blaues Licht ein Stern abgibt. Aus dieser spektralen Farbverteilung lässt sich dessen Oberflächentemperatur ablesen: Blaue Sterne sind heißer als rötliche. Auch wie groß der Stern mit dieser Oberflächentemperatur sein muss, damit seine heiße Oberfläche insgesamt die aus seiner Helligkeit und Entfernung berechnete Lichtmenge abstrahlt, können Astronomen dann ableiten.

Die Sterne des Gaia-Katalogs sind also keine Lichtpunkte ohne Eigenschaften mehr. Gaia hat aus ihnen Sterne mit Steckbrief gemacht, auf denen ihre jeweiligen individuellen Merkmale verzeichnet sind: Neben ihren Entfernungen und Bewegungen auch ihre Leuchtkraft, Größe und Temperatur. In diesem kunterbunten Sternvielerlei haben die Astronomen auch bereits wieder die verschiedenen Sternsorten identifiziert, mit denen sie schon seit mehr als hundert Jahren Ordnung in das Sterngewimmel bringen konnten: „Normale“ Sterne wie unsere Sonne, jedoch unterschiedlich groß und heiß, „Rote Riesen“ und „Weiße Zwerge“. Sie alle sind eigentlich nur Sterne unterschiedlichen Alters.

Weiße Zwerge hat Gaia bereits 35 000 vermessen. Es sind eher Kadaver ehemaliger Sterne, die ihre äußere Hülle abgestoßen und dadurch das heiße Zentrum freigelegt haben. Sie geben also den direkten Blick auf den noch heißen Fusionsreaktor des ehemaligen Sternkraftwerks frei, das Milliarden von Jahren lang die Energie für sein Leuchten geliefert hatte.

Rund 95 Prozent aller Sterne enden früher oder später als Weiße Zwerge. Auch der Sonne steht eine solche Zukunft bevor. Bis dahin werden allerdings noch einige Milliarden Jahre vergehen. Zuvor wird die Sonne sich aufblähen zu einem Riesenstern. Ihre Oberfläche wird sich dadurch abkühlen und sich deshalb rötlich verfärben. Sie wird in diesem fortgeschrittenen Stadium also ein Roter Riese sein.

Eine neue Grundlage der Astronomie

Während der Zeit, die nötig war, diesen Artikel zu lesen, hat Gaia Werte von etwa einer halben Million Sternen registriert und deren Gesamt-Messwerte verfeinert. Mit einer Übertragungsrate von fünf Megabit pro Sekunde strömen die Daten weiterhin täglich zu den Empfangsantennen. Die können, aus ganz profanen Gründen, nur acht Stunden pro Tag wirklich etwas von Gaia empfangen. Denn es gibt schlicht nur drei davon, und durch die Erdrotation können sie oft keinen Kontakt mit der Sonde haben. Zudem müssen sie sich auch noch um andere Sonden und deren Daten kümmern.

Gaia hat bislang etwa eine Milliarde Euro gekostet. Pro katalogisiertem „Objekt“ – zu den Milchstraßensternen kommen unter anderem auch noch helle Quasare in fernen Galaxien und Asteroiden im Sonnensystem – sind das gut 50 Cent. Es ist eigentlich kein schlechtes Preis-Leistungs-Verhältnis für ein Instrument, dessen Daten, wie Esa-Forschungschef Günter Hasinger sagt „eine neue Grundlage der Astronomie“ liefern.

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