Ernst-Schering-Preis 2014: Im Gehirn verbirgt sich ein unterschätzter Jungbrunnen
Gliazellen stützen und versorgen Nervenzellen nicht nur. Sie können diese sogar ersetzen, entdeckte die Ernst-Schering-Preisträgerin Magdalena Götz. Die neuen Nervenzellen könnten nach Verletzungen des Gehirns - etwa durch einen Schlaganfall oder ein Hirntrauma - helfen.
Ganz und gar langweilig seien diese Zellen, davon waren Hirnforscher bis vor 20 Jahren überzeugt. Ihre Funktion hatte schon Rudolf Virchow beschrieben, er nannte sie 1856 „Nervenkitt“. Während Nervenzellen alle Arbeit im Gehirn übernehmen, seien die Gliazellen ihnen nur Stütze und Ernährer. Bis heute steht das in vielen Lehrbüchern. Dass sich die Münchner Neurowissenschaftlerin Magdalena Götz ausgerechnet diesen dienstbaren Geistern zuwandte, konnten viele ihrer Kollegen nicht nachvollziehen. Als sie im Jahr 2000 auch noch bei einer Konferenz behauptete, dass sich die Hilfskräfte selbst zu Nervenzellen entwickeln können, zweifelten sie nicht nur an ihr. Götz wurde offen angefeindet.
Denn das rüttelte nicht nur an Virchows Aussagen. Es griff auch einen ehernen Grundsatz an, den der Nobelpreisträger Ramón y Cajal 1913 festgelegt hatte: „Sobald die Entwicklung abgeschlossen ist, trocknen die Quellen der Erneuerung unwiederbringlich aus. Im erwachsenen Gehirn sind die Nervenbahnen starr. Alles kann sterben, nichts kann sich erneuern.“ Dass Schlaganfälle bleibende Schäden anrichten, kann jeder sehen. Aber nur ein Verrückter würde behaupten, dass sich das Hirn verjüngen kann und neue Zellen ihren Platz in einem so verschlungenen Netzwerk wie dem Gehirn finden, ohne dabei seine Funktionen zu stören. Das zumindest meinten die Gegner, als man ab den 1980-er Jahren neue Nervenzellen im erwachsenen Gehirn von Vögeln, Ratten, Affen und schließlich beim Menschen fand. Keine dieser Entdeckungen akzeptierte die Fachwelt sofort. Im Gegenteil. Und nun kam Götz mit einer aberwitzigen Erklärung, wie diese Geburt neuer Nervenzellen (Neurogenese) vonstattengehen könnte.
„Wissenschaftler sind Menschen, die weniger Vorurteile haben als andere, aber wesentlich hartnäckigere“, zitierte Ursula-Friederike Habenicht vom wissenschaftlichen Ausschuss der Schering-Stiftung in ihrer Laudatio Jean-Jacques Rousseau. Die Ernst-Schering-Preisträgerin 2014 hat sich nie um solche Ressentiments geschert. Der Erfolg gibt ihr recht. Heute wird die Direktorin des Instituts für Stammzellforschung am Helmholtzzentrum München und Professorin für Physiologische Genomik an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Hoffnungsträgerin gefeiert. Von ihrer Forschung verspricht man sich neue Therapien für Patienten, die einen Schlaganfall oder ein Hirntrauma erlitten haben oder deren Nervenzellen aufgrund einer Demenz wie Alzheimer zugrunde gehen. Allerdings will sie keine neuen Zellen ins kranke Gehirn einpflanzen. Ihr Ziel ist es, die zahlreich vorhandenen Gliazellen medikamentös dazu zu bringen, sich im Notfall in Nervenzellen umzuwandeln.
"Wer genau hinschaut, wie das Leben funktioniert, erlebt große Überraschungen"
Ohne ein Verständnis der „langweiligen Zellen“, wären diese potenziellen Anwendungen nie diskutiert worden, sagt Götz. Die Freiheit der Forschung, Abseitiges zu beobachten, ist ihr wichtig. Auch von ihren Mitarbeitern erwartet sie, dass sie keinen Trends hinterherlaufen. „Wer genau hinschaut, wie das Leben funktioniert, erlebt große Überraschungen“, sagt Götz. „Verstanden haben wir molekulare Mechanismen erst, wenn wir sie in Experimenten auslösen können.“
Als sie beobachtete, wie sich Nervenzellen im Gehirn von Mäusen entwickeln, fand sie nicht die Lehrbuch-„Vorläuferzellen“, sondern massenhaft radiale Gliazellen. „Die Vorläuferzellen waren eine Annahme, ein menschliches Konstrukt“, sagt sie. „Ein falsches.“ Vielmehr wies sie nach, dass diese radialen Gliazellen Stammzelleigenschaften haben und teilweise zu Nervenzellen werden.
Warum schädigt dann ein Schlaganfall das Gehirn derart? Am Ende der Entwicklung verlieren die meisten Gliazellen ihre Stammzelleigenschaften und werden tatsächlich zu Stützen und Ernährern. Nur in einigen Nischen bleiben Alleskönner erhalten – anders als beim Zebrafisch. Und so kann das Fischgehirn kleine Verletzungen ohne Weiteres wegstecken, ohne Narbengewebe. „Wir wollen von ihnen lernen, welche Signalwege dazu nötig sind und das nachahmen“, sagt Götz. Dann klappt vielleicht auch irgendwann die Reprogrammierung der Gliazellen im menschlichen Gehirn.
Jana Schlütter
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