Neurogenese: Unerwarteter Fallout
Oberirdische Atombombentests helfen dabei, neue Nervenzellen im Gehirn nachzuweisen. Forscher nutzen dafür das damals freigesetzte Kohlenstoffisotop C14.
Neurowissenschaftler sollten die Bombe lieben, kommentiert Gerd Kempermann von der Technischen Universität Dresden im Fachblatt „Science“. Er meint damit nicht irgendeine Bombe, sondern ausgerechnet die oberirdischen Atombombentests zwischen 1945 und 1963. Denn die Tests hatten eine Wirkung, die niemand vorhersehen konnte: Sie haben ganz nebenbei ein Methodenproblem der Neurowissenschaft gelöst. Mit ihrer Hilfe gelang einem Team um Kirsty Spalding vom Karolinska-Institut in Stockholm nun der Nachweis, dass der menschliche Hippocampus – das Tor zum Gedächtnis – bis ins hohe Alter jeden Tag etwa 700 neue Nervenzellen bildet.
Noch in den 1980er Jahren hätte die Fachwelt über so eine Behauptung gelacht. Es galt, was der Nobelpreisträger Ramón y Cajal 1913 als ehernen Grundsatz festgelegt hatte: „Sobald die Entwicklung abgeschlossen ist, trocknen die Quellen der Erneuerung unwiederbringlich aus. Im erwachsenen Gehirn sind die Nervenbahnen starr. Alles kann sterben, nichts kann sich erneuern.“ Dass Schlaganfälle bleibende Schäden anrichten, sah jedes Kind. Aber nur ein Verrückter würde behaupten, dass sich das Hirn verjüngen kann und neue Zellen ihren Platz in einem so verschlungenen Netzwerk wie dem Gehirn finden, ohne dabei seine Funktionen zu stören! Dann fand man neue Nervenzellen im erwachsenen Gehirn von Vögeln, Ratten und Affen.
Beim Menschen erwies sich das als kompliziert. Ein direkter Nachweis gelang nur einmal vor 15 Jahren durch die Untersuchung der Gehirne fünf verstorbener Krebspatienten. Um den Verlauf ihrer Erkrankung nachzuvollziehen, hatte man ihnen Bromdesoxyuridin gespritzt. Das Mittel markierte nicht nur Tumorzellen, sondern auch neu entstandene Neuronen. Es war jedoch gesundheitsschädlich und durfte bald nicht mehr verwendet werden. Während man bei Nagetieren beweisen konnte, dass die Geburt neuer Nervenzellen ihr Gedächtnis schärft, blieb unklar, wie viele neue Nervenzellen ein menschliches Gehirn bildet und ob sie überhaupt eine Funktion haben. Dank der neuen Methode von Spalding und ihren Kollegen findet die Neurobiologie nun aus dieser Sackgasse.
Die Forscher nutzen die Tatsache, dass durch die Atombombentests zwischen 1945 und 1963 große Mengen des Isotops Kohlenstoff 14 (C14) in die Atmosphäre gelangten. Die Atome lagerten sich in Pflanzen ein, kamen über die Nahrungskette in den menschlichen Körper und wurden dort ins Erbgut sich teilender beziehungsweise neu entstehender Zellen eingebaut. Anhand der C14-Menge in der DNS von Nervenzellen entwickelten die Forscher nun eine Art „Zeitstempel“. Damit konnten sie nachträglich ermitteln, wann und wie viele Nervenzellen im Hippocampus von verstorbenen 19- bis 92-jährigen Patienten entstanden waren. Ihr Ergebnis: Ein Drittel des Hippocampus wird im Laufe eines Menschenlebens regelmäßig erneuert, etwa 700 neue Nervenzellen bilden sich dort pro Seite und Tag (1400 insgesamt). Sie werden nach durchschnittlich sieben Jahren wieder ausgetauscht, schreiben sie im Fachblatt „Cell“. Im Alter lasse das nur etwas nach. Vermutlich habe die Neurogenese daher für den Menschen sehr wohl eine Bedeutung – und zwar nicht nur für das Gedächtnis. Auch bei psychiatrischen Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen gebe es Hinweise darauf, dass diese Patienten weniger neue Nervenzellen bilden können.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität