Ein zweiter "Berliner Patient": HIV-Heilung macht Hoffnung auf neue Therapien
Aids-Viren den Weg verbauen, um Infizierte vom Erreger zu befreien - das gelang bislang nur einmal. Ein zweiter Fall verschafft Gentherapie-Ideen Aufwind.
Den Ausbruch der Immunschwächekrankheit Aids können Ärzte heute mit Medikamenten verhindern, die eine Vermehrung das Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) unterdrücken. Mit dieser antiretroviralen Therapie (ART) ist Aids nicht mehr tödlich. Doch einen HIV-Infizierten von den Viren und dem Medikamentencocktail zu befreien, das haben Ärzten erst einmal geschafft - vor über zehn Jahren in Berlin. Jetzt gibt es einen zweiten Patienten in London, bei dem das den ersten Tests zufolge wohl ebenfalls gelungen ist.
Besser als ein Sechser im Lotto
Aids-Viren brauchen ein Schlupfloch, um in menschliche Zellen eindringen zu können. Es nennt sich CCR5 und sitzt auf der Oberfläche bestimmter Immunzellen, der T-Zellen. Bei etwa einem Prozent der Bevölkerung Europas fehlt dieses Schlupfloch, sie haben eine Mutation des CCR5-Gens und sind damit weitgehend resistent gegen eine HIV-Infektion. Warum also nicht die Blut- und Immunzellen bildenden Stammzellen im Knochenmark gegen solche CCR5-mutierten Stammzellen austauschen, so dass die Aids-Viren die Zellen von Infizierten nicht mehr befallen und sich auch nicht mehr vermehren können? Diese Idee kursierte unter Aids-Experten, seit man von der CCR5-Mutation wusste. Doch niemand führt eine Knochenmarktransplantation an Menschen durch, die im Grunde gesund sind, weil sie den Ausbruch von Aids mit einem Medikamentencocktail verhindern können. Es sei denn, der HIV-Infizierte ist so schwer an Blutkrebs erkrankt, dass seine einzige Chance eine solche Knochenmarktransplantation ist. Das war 2008 der Fall bei Timothy Ray Brown. Der Amerikaner lebte damals in Berlin und wurde an der Charité von dem Arzt Gero Hütter behandelt. Er fand für Brown nicht nur einen Spender mit passendem Gewebetyp für die Stammzelltransplantation, sondern einen, dessen Stammzellen auch das CCR5-Schlupfloch fehlte. Ein Treffer mit einer Wahrscheinlichkeit ähnlich dem eines Lottogewinns. Zwar starb der geschwächte Brown bei der Transplantation fast, erholte sich dann aber und konnte seine HIV-unterdrückenden Medikamente absetzen, da in seinem Blut keine Aids-Viren mehr nachweisbar waren. Das ist bis heute so. Seitdem gilt der "Berliner Patient" als erster von einer HIV-Infektion geheilter Mensch.
Im Fachmagazin "Nature" (Studie ab Dienstag, 21 Uhr, öffentlich) beschreiben Forscher nun den Fall eines HIV-Infizierten in London, der 2012 Lymphdrüsenkrebs entwickelte (ein Hodgkin-Lymphom) und mit CCR5-mutierten Knochenmarkstammzellen behandelt wurde, von einem Ärzteteam des University College und dem Imperial College London sowie der University of Cambridge und der University of Oxford. 16 Monate danach setzten die Ärzte die antiretroviralen Medikamente ab, weil keine Aids-Viren im Blut mehr feststellbar waren. Auch 18 Monate später hat sich an der Diagnose nichts geändert, der Patient ist offenbar frei von HIV - obwohl das Ärzteteam um Ravindra Gupta betont, dass es "zu früh" sei, um von einer "Heilung" zu sprechen. Das "Mississippi Baby", das vor und nach der Geburt mit einer intensiven antiretroviralen Therapie vor einer Virusübertragung von der infizierten Mutter geschützt werden sollte, hatte insgesamt 27 Monate nach Ende einer Therapie keine nachweisbare Virusmenge. Dennoch kam das Virus 2014 zurück.
Eine heilende Therapie von der HIV-Infektion ist dennoch nicht in Sicht
Zu früh, ja sogar falsch wäre es auch zu behaupten, dass nun eine heilende Therapie zur Verfügung stünde, mit der auch HIV-Infizierte von den Viren befreit werden könnten, die nicht an Blut- oder Lymphdrüsenkrebs erkrankt sind. Allein in Deutschland sind das etwa 86.000 Menschen. Denn eine Knochenmarktransplantation wird nur im Notfall, als letzter Ausweg, erwogen und kommt bei im Grunde Gesunden nicht in Frage. Aus gutem Grund, erläutert Gero Hütter: „Seit der erfolgreichen Transplantation des ‚Berliner Patienten‘ wird versucht diesen Fall zu reproduzieren", sagt Hütter, heute ärztlicher Leiter der Firma Cellex in Dresden. „Leider sind einige der Patienten, die die gleiche Behandlung erhalten hatten, früh an Komplikationen oder Rückfällen ihrer Krebserkrankung verstorben."
In den meisten Fällen findet sich auch gar kein Spender mit CCR5-Mutation, dessen Gewebetyp zum Patienten passt. "Die Stammzelltransplantation wird auch zukünftig HIV-Patienten mit zusätzlichen hämatologischen Erkrankungen vorbehalten bleiben." Dennoch ist der "Londoner Patient" ein Indiz dafür, dass die erfolgreiche Behandlung des "Berliner Patienten" kein Zufall oder durch besondere Eigenschaften Browns bedingt war. "Dieser neue erfolgreiche Fall deutet darauf hin, dass es durch die Auswahl des Transplantates, das keine Angriffspunkte für HIV lieferte, zu dieser Heilung gekommen ist", sagt Hütter. "Damit wird auch die Entwicklung gentherapeutischer Therapieoptionen gestärkt, um ein Verfahren zu entwickeln, dieses Prinzip der HIV-Heilung praktikabler und für den Patienten risikoärmer umzusetzen.“
Der Erfolg in London gibt Hoffnung für gentherapeutische Ansätze
Damit spielt Hütter auf Versuche an, bei denen HIV-Infizierten Immunzellen entnommen und im Labor gentechnisch verändert werden. Genscheren zerschneiden dabei das CCR5-Gen so präzise, dass die resistent machende Mutation (genannt Delta32) nachgeahmt wird. Die so veränderten Zellen werden vermehrt und dem Patienten zurückgespritzt. Tests zeigten in den vergangen Jahren, dass diese Zellen im Körper überdauern und resistent gegen HIV-Befall sind, also wieder ein funktionierendes Immunsystem aufbauen können. "Patienten würden lieber geheilt, als jeden Tag Medizin zu schlucken", sagt Carl June. Der Krebs- und HIV-Forscher der Universität Pennsylvania in Philadelphia hat schon 2010 als erster solche Gentherapie-Versuche unternommen, gemeinsam mit der kalifornischen Biotechfirma Sangamo. "Wissenschaftlich sind wir soweit", so June gegenüber dem Tagesspiegel. "Wenn wir sowohl Stammzellen als auch T-Zellen verändern und das kombinieren, können wir in den Patienten ein Immunsystem aufbauen, in dem HIV sich nicht vermehren kann." Denn um einen dauerhaften Effekt zu erzielen, muss die CCR5-Mutation nicht nur in ausgereiften und begrenzt lebensfähigen T-Zellen, sondern auch im Erbgut der Blut- und Immunzellen bildenden Stammzellen herbeigeführt werden. Erst dann werden immer wieder HIV-resistente Immunzellen neu gebildet.
Tatsächlich läuft seit 2015 eine Studie am City of Hope National Medical Center in Duarte, Kalifornien, mit der die Stammzellveränderung an zwölf HIV-Patienten getestet wird. Sollten bei den Patienten neun bis zwölf Monate nach der Infusion der genetisch frisierten Stammzellen keine Viren mehr nachweisbar sein, soll die retrovirale Therapie unterbrochen werden. Ergebnisse der Studie werden für März 2019 in Aussicht gestellt. June hingegen testet einen Ansatz, bei dem sowohl die "Offensive", ein besseres Immunsystem gegen die bereits HIV-infizierten Zellen, als auch die "Defensive", der Schutz vor Neuinfektion mit den Viren durch die CCR5-Mutation, gestärkt werden soll. "Wir bereiten gerade eine Phase-I-Studie mit 12 Patienten vor, bei der wir zwei verschiedene Zelltypen herstellen - bessere Killerzellen, um HIV-infizierte Zellen loszuwerden, und Immunzellen, die CCR5-mutiert sind." Andere Forscher versuchen, Stammzellen aus der Nabelschnur Neugeborener gentechnisch anzupassen und für die Therapie von HIV-Patienten zu verwenden. Sie könnten - Erfolg vorausgesetzt - in ausreichender Anzahl und mit passendem Gewebetyp bereitgestellt werden. Damit würde sich die mühsame und zeitaufwändige Entnahme und genetische Anpassung von Zellen eines jeden HIV-Patienten erübrigen.
Zehn Jahre bis zur Klinik
Allerdings ist nicht jeder überzeugt vom gentherapeutischen Ansatz. Das würde wohl selbst im besten Fall nur einen Teil der Stammzellen erreichen und verändern können, meint Hans-Georg Kräusslich, Direktor der Abteilung Virologie am Universitätsklinikum Heidelberg: "Aktuell ist daher nicht damit zu rechnen, dass hierdurch gleichwertige Erfolge zu erzielen sein werden" wie beim "Berliner" oder "Londoner" Patienten. Ohnehin seien die beiden Fälle recht unterschiedlich. Zwar hatten beide Erkrankungen, die eine Transplantation erforderten, aber anders als bei Brown konnte auf eine Bestrahlung des Körpers vor der Transplantation verzichtet werden, sagt Kräusslich. "Außerdem hatte der ‚Berlin Patient‘ einen Rückfall der Leukämie nach der ersten Transplantation und brauchte eine zweite Transplantation, erneut mit Bestrahlung des gesamten Körpers." Selbst wenn beide Patienten nun frei von HI-Viren sind und bleiben, ist offen, ob das allein an der schlupflochverschließenden CCR5-Mutation liegt, oder ob die Transplantation noch andere Effekte auf die Viren hat. So hatten beide Patienten eine "Graft-versus-Host"-Reaktion, bei der die Knochenmarks- bzw. die Immunzellen des Spenders die Körperzellen des Patienten angreifen. Dabei werden auch Krebszellen und vermutlich auch virusinfizierte Zellen angegriffen. Es sei nicht auszuschließen, dass auch das eine Rolle bei der Heilung spiele, sagt
Jürgen Rockstroh, Oberarzt und Leiter der Infektiologie der Universitätsklinikum Bonn.
Bis eine Gentherapie in der Klinik ist, die HIV-Infizierte heilen kann, werde es sicher noch zehn Jahre dauern, sagt June. Die Frage, ob sich solch eine sicher nicht billige Therapie lohne, beantwortet June mit Zahlen: Ein Patient, der sich mit Anfang Zwanzig infiziert und ein Leben lang mit antiretroviralen Medikamenten versorgt wird, koste etwa eine Million Dollar. Und allein in den USA gebe es derzeit eine Million HIV-Infizierte. (mit smc)