Aids: Rätselraten um den „Berliner Patienten“
Vor drei Jahren gelang an der Charité ein bisher einmaliger Erfolg. Timothy Brown gilt seither als einziger geheilter HIV-Patient weltweit – neue Befunde lassen daran zweifeln.
Vor dreieinhalb Jahren ging die Geschichte des „Berliner Patienten“ um die Welt. Der „Berliner Patient“, das war der mit dem Aidsvirus HIV infizierte und an Blutkrebs erkrankte Amerikaner Timothy Brown. Dem Internisten Gero Hütter von der Berliner Charité war es 2007 gelungen, mit einer Stammzell-Behandlung Brown sowohl von HIV als auch von dem Blutkrebs zu befreien. Brown, heute 46, wurde zum Symbol der Hoffnung für Millionen Infizierte – als bislang einziger Mensch, der HIV besiegte. Jetzt aber rufen neue Befunde Verwirrung und Streit hervor. Amerikanische Forscher haben Erbgutspuren des Aidsvirus in Browns Blut gefunden. Ist der Berliner Patient wirklich geheilt?
Die Bombe platzte am 8. Juni, dem letzten Tag eines Expertentreffens zu HIV und Hepatitis (Leberentzündung) im spanischen Sitges. Der Virusexperte Steven Yukl von der Universität von Kalifornien in San Francisco berichtete von Bluttests bei Brown, mit denen man die Frage beantworten wollte, ob der Kalifornier – Brown lebt heute in San Francisco – wirklich virusfrei ist. Die Ergebnisse sind widersprüchlich. Einige Wissenschaftler haben Virus-Erbgut im Blut aufgespürt, andere nicht, berichtet das Fachblatt „Science“ online.
Mit einem sehr empfindlichen Test namens PCR, einer Art Schnellkopierer für Gene, suchte Yukl in neun Milliarden Blutzellen nach HIV. Ebenso wie zwei andere Labors fand er schließlich nach weiteren Tests Schnipsel von Virus-RNS, Erbsubstanz des Aidsvirus, im Blutplasma. „Der angeblich geheilte Berliner Patient hat nachweislich noch immer HIV in seinem Körper“, lautete daraufhin der auftrumpfende Titel einer Pressemitteilung, die der französische Aids-Experte Alain Lafeuillade veröffentlichte. Er stellt die Heilung offen infrage.
Dieser Deutung Lafeuillades widersprechen die Wissenschaftler jedoch. „Es war nicht unsere Absicht, zu behaupten, dass HIV noch vorhanden ist oder dass der Patient nicht geheilt wurde“, sagte Yukl. „Es gibt einige Signale, die von Viren stammen – aber wir wissen nicht, ob sie real sind oder auf Verunreinigungen des Tests beruhen.“ Zum jetzigen Zeitpunkt könne man nicht sicher sein, dass der Erreger völlig ausgelöscht wurde.
Douglas Richman von der Universität von Kalifornien in San Diego hat mit seinen Tests dagegen kein Virus in Brown festgestellt. Er glaubt, dass seine Kollegen auf Verunreinigungen hereingefallen sind, denn die von ihnen angewandten Verfahren sind besonders empfindlich und fehleranfällig. „Wenn man mit der PCR-Methode immer und immer wieder Erbgut vervielfältigt, dann bekommt man ein Signal von rosa Elefanten in Wasser“, spottete Richman gegenüber dem Magazin „Science“.
Gefunden wurden lediglich Bruchstücke von Virus-Erbgut, nicht etwa komplette, vermehrungsfähige Erreger. Die Partikel treiben vermutlich in Browns Blutplasma, ohne eine Gefahr darzustellen. Wie ein Vergleich ergab, ähnelt die Erbinformation nicht der des Virus, das vor der Stammzell-Behandlung in Brown gefunden worden war. Denkbar, dass er sich neu infiziert hat, dass mehrere Spielarten des Virus sich in seinem Körper verbergen – oder dass auch dieser Erbgut-Test verunreinigt ist. Fragen über Fragen, die allerdings eher den Wissenschaftlern als Brown selbst Kopfzerbrechen bereiten dürften. Denn der ehemalige Berliner Patient nimmt sein fünf Jahren keine Medikamente gegen HIV mehr. Er braucht sie nicht mehr. „Das übertrumpft all diese Virustests“, sagt Douglas Richman. Auch wenn jetzt mit sehr empfindlichen Methoden noch Überbleibsel des Virus gefunden worden seien, stelle das die Heilung Browns nicht infrage. Lafeuillade habe die Ergebnisse von Yukls Studie „völlig missverstanden“.
„Ich stelle nur wissenschaftliche Fragen, auf die niemand sonst gekommen ist“, kontert der französische Forscher. Und weist darauf hin, dass auch Antikörper gegen das Aidsvirus bei Brown gefunden wurden. Also Abwehrstoffe, die auf einen Kontakt mit dem Erreger hindeuten. Der Streit der Wissenschaftler mutet wie Haarspalterei an, aber es geht ums Grundsätzliche. Nämlich um die Frage, wann man von einer Heilung von HIV sprechen kann. Und das in einem Zeitalter, in dem geringste HIV-Spuren noch nachweisbar sind. Diese Debatte hat nun neue Nahrung bekommen.
Timothy Brown dürfte diese Auseinandersetzung eher gelassen verfolgen. Die Stammzell-Therapie am Universitätsklinikum Benjamin Franklin in Berlin-Steglitz hat ihn mit einem Aids-Schutz versorgt. Den verdankt er seinem Arzt Gero Hütter. Der Mediziner war auf die Idee gekommen, einen Stammzell-Spender mit einem veränderten CCR5-Gen zu suchen. Menschen mit einer solchen seltenen Mutation sind vor HIV geschützt, weil der Erreger nicht in die Zellen eindringen kann. Die Mutation macht die Tür zu, das Virus bleibt draußen.
Hütters Geistesblitz wäre folgenlos geblieben, hätte man nicht einen passenden Spender gefunden. Doch der Berliner Mediziner – und mit ihm sein Patient – hatte das Glück des Tüchtigen. Heute nennt die „LA Times“ Timothy Brown den „Harry Potter der Krankheit“ – wie der Fantasy-Held den Klauen des Bösewichts Lord Voldemort entkam, so besiegte Brown den Erreger der Immunschwäche. Auch wenn ein letzter Zweifel bleibt.