Chime-Radioteleskop: Himmlische Halfpipe
Bauteile aus Handys und Heim-PCs: Ein simpel aufgebautes Radioteleskop soll die Jugend des Kosmos erforschen und Hinweise auf Dunkle Energie liefern. 2016 soll es losgehen.
Es ähnelt einer Reihe von Halfpipes und besteht zu einem Großteil aus Bausteinen von der Stange. Dennoch ist „Chime“ keine Bastelarbeit jugendlicher Technikfreaks, sondern ein hoch spezialisiertes Radioteleskop für den Blick in die Jugendzeit des Kosmos vor sieben bis elf Milliarden Jahren. Das „Canadian Hydrogen Intensity Mapping Experiment“ – was auf Deutsch so viel bedeutet wie „kanadisches Experiment zur Kartierung der Wasserstoff-Intensität“ – macht das, was sein Name andeutet: Es misst die Intensität der Strahlung von neutralem Wasserstoff in fernen Galaxien und liefert so eine Karte der großräumigen kosmischen Strukturen. Die Forscher hoffen auf neue Erkenntnisse über die Expansionsgeschichte des Universums und damit über die rätselhafte Dunkle Energie, die diese Expansion beschleunigt.
Die kosmische Geschichte begann vor 13,8 Milliarden Jahren mit dem Urknall. Seitdem dehnt sich das Weltall aus. Die Schwerkraft der Materie sollte, so die Theorie, die kosmische Expansion abbremsen. Doch in den 1990er-Jahren stießen Astronomen bei der Beobachtung ferner Sternexplosionen (Supernovae) auf ein seltsames Phänomen. Die Ausdehnung scheint sich keineswegs zu verlangsamen, sondern im Gegenteil sogar zu beschleunigen. Aus Mangel an einer handfesten Erklärung schreiben die Forscher diese beschleunigte Ausdehnung einer mysteriösen Dunklen Energie zu, die den gesamten Weltraum erfüllt.
War die Dunkle Energie immer gleich groß?
Worum aber handelt es sich dabei? Die Physiker tappen im sprichwörtlichen Dunkeln, auch wenn es eine Reihe miteinander konkurrierender theoretischer Lösungsansätze gibt. Weitere Aufschlüsse über die Dunkle Materie könnte ihr zeitliches Verhalten geben – war sie im Verlauf der kosmischen Geschichte immer gleich groß oder hat sie sich in ihrer Stärke verändert?
Bedauerlicherweise liefern die bisherigen Beobachtungen darüber keine zuverlässigen Informationen. Die Supernova-Messungen zeigen einerseits, dass sich die Expansion seit sechs Milliarden Jahren durch die Dunkle Energie beschleunigt. Beobachtungen von Quasaren, leuchtkräftigen Galaxienkernen im jungen Kosmos, bestätigen andererseits, dass sich die Expansion in den ersten ein bis zwei Milliarden Jahren noch durch die Schwerkraft der damals dichteren Materie verlangsamt hat.
Eine Übergangsphase zwischen Verlangsamung und Beschleunigung
Es ist die Übergangsphase zwischen Verlangsamung und Beschleunigung in der Jugend des Kosmos, die den Astronomen die meisten Informationen über die Dunkle Energie liefern könnte. Eben in diese Zeitepoche soll das Chime-Teleskop nun blicken. Die Wissenschaftler nutzen dafür die berühmte „21-Zentimeter-Linie“ des Wasserstoffs. Dabei handelt es sich um eine Strahlung mit einer Wellenlänge von 21 Zentimetern (das entspricht einer Frequenz von 1420 Megahertz), die neutraler Wasserstoff aussendet. Mit ihr konnten Astronomen unter anderem erstmals Informationen über die Struktur unserer eigenen Galaxie, die Milchstraße, gewinnen: Sie konnten erkennen, wo sich viel Materie zusammenballt und wo „Lücken“ bestehen.
Ganz ähnlich liefert die Intensität dieser Strahlung den Forschern auch eine Karte der großräumigen kosmischen Strukturen. Die in fernen Galaxien ausgesendete Strahlung des Wasserstoffs wird dabei – wie das gesamte Universum – ebenfalls gedehnt. Ihre Wellenlänge vergrößert sich also auf dem Weg zur Erde. Das Chime-Teleskop ist so gebaut, dass es gerade die Strahlung aus der Zeit vor sieben bis elf Milliarden Jahren besonders gut untersuchen kann.
Wie die Kanadier die Kosten gedrückt haben
Aus der Größe der auf diese Weise kartierten Strukturen wollen die Wissenschaftler Rückschlüsse auf die Expansion ziehen – und damit der Dunklen Energie auf die Spur kommen. Dazu müssen sie den gesamten sichtbaren Himmel mit hoher Genauigkeit abscannen.
Mit herkömmlichen Radioteleskopen wäre dieses Vorhaben unbezahlbar. Doch die Kanadier ließen sich einiges einfallen, um die Kosten zu drücken. Erstens verzichten sie auf sonst übliche Parabolantennen und verwenden zylindrische Aufbauten, die technisch einfacher und damit günstiger zu realisieren sind. Zweitens sind diese vier 100 Meter langen und 20 Meter breiten Antennen fest installiert, also nicht beweglich. Auch das spart viel Geld. Die Forscher nutzen die Drehung der Erde, um mit den Antennen den ganzen, vom Standort aus sichtbaren Himmel zu beobachten. Und drittens griffen sie auf existierende elektronische Bauteile zurück und verzichteten dadurch auf teure Neuentwicklungen. Die Signalverstärker des Teleskops wurden ursprünglich für Smartphones entwickelt, aus tausend Grafikprozessoren für Computerspiele konstruierten die Wissenschaftler einen Supercomputer, der die anfallende Datenmenge von einem Terabyte pro Sekunde bewältigen kann.
Noch in diesem Jahr soll die Kartierung des Kosmos beginnen
Vor zwei Jahren demonstrierte das Chime-Team mit einer kleinen Pilotanlage die Funktionsfähigkeit ihres Designs. Inzwischen ist das neue Radioteleskop auf dem Gelände des Dominion Radio Astrophysical Observatory nahe der Kleinstadt Penticton in der kanadischen Provinz British Columbia nahezu fertiggestellt. Nach einer Testphase soll es noch in diesem Jahr mit der Kartierung des jugendlichen Kosmos beginnen. Und wie jedes große wissenschaftliche Instrument wird es nicht nur seiner eigentlichen Aufgabe nachgehen: Die Forscher erhoffen sich quasi als Abfallprodukt auch neue Einsichten über unsere Milchstraße und Neutronensterne – und vielleicht die Entdeckung bislang unbekannter kosmischer Radioquellen.