Fragwürdige Express-Forschung: Hat das Coronavirus Bausteine von HIV?
Im Internet kursieren wilde Theorien über den Ursprung des Virus. Dazu tragen auch fragwürdige „Forscher“ bei. Schnelle Studien enthalten oft Fehler.
Ist das neue Coronavirus ein Mix aus zwei verschiedenen Virustypen? Aus einem Sars-ähnlichen und dem Aids-Erreger HIV? Auf den ersten, flüchtigen Blick ist man versucht, diese Meldung zum Stapel unglaubwürdiger Verschwörungstheorien zu legen, die derzeit in den sozialen Medien kursieren.
Doch der zweite Blick verrät: Ein Team von neun Wissenschaftlern um den Proteinforscher Bishwajit Kundu vom Indian Institute of Technology stellt diese Behauptung auf. Ist also doch etwas dran? Erst gründliches Recherchieren zeigt: Selbst Arbeiten namhafter Forscher und Forschungsinstitute sind derzeit gelegentlich nur mit großer Vorsicht zu genießen.
Kundus Team hatte die noch unveröffentlichte Arbeit auf dem „Preprint“-Portal BioRxiv.org vorab online gestellt. Im Moment passiert das mit vielen Forschungsergebnissen rund um das Virus 2019-nCoV. Grund dafür ist schlicht, dass wichtige Informationen schnell zugänglich gemacht werden sollen.
Allerdings wird so auch Forschung öffentlich, die voller Fehler und Fehlschlüsse ist. Beim sonst üblichen, wissenschaftlichen Publikationsprozess werden Forschungsarbeiten erst von anderen Experten geprüft, bevor sie veröffentlicht werden. So wird sichergestellt, dass sie die Standards für gute Wissenschaft erfüllen. Viele Publikationen scheitern an dieser Hürde.
Auch Forscher wollen die Welle reiten
Auf BioRxiv hochgeladene Manuskripte sind also als vorläufig einzustufen. Ein kritischer Blick tut not, etwa auf die Reputation der beteiligten Forscher. Bishwajit Kundu ist kein Virologe. Er befasst sich sonst mit Prionen, also Proteinen, die „Rinderwahnsinn“ (BSE) auslösen. Proteine kommen aber auch in der Hülle von Viren vor – und als das Virus in Wuhan beginnt, größere Kreise zu ziehen, weckt das Kundus Interesse.
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Zwar hat sein Labor keine Coronaviren im Kühlschrank, doch die genetischen Baupläne des Erregers sind inzwischen öffentlich. Also kann auch Kundu die Erbgutsequenz herunterladen und die in der Sequenz kodierten Baupläne für die Virusproteine anschauen. Als er die Baupläne der „Spike“-Proteine studiert, mit denen die Viren an menschliche Zellen andocken und sich einschleusen, fallen ihm vier ungewöhnliche Stellen auf, die kein anderes Coronavirus hat. Und alle vier scheinen übereinzustimmen mit Teilen der Erbgutsequenz eines bekannten Virus: HIV. Kundus Schlussfolgerung: Das neue Coronavirus ist ein Mix alter Coronaviren mit HIV.
Sensation oder Blödsinn?
Wenn es so wäre, dann wäre das eine Sensation. Denn die beiden Viren könnten unterschiedlicher nicht sein. HIV ist ein sogenanntes Retrovirus mit einem komplizierten Vermehrungszyklus. Seine Erbsubstanz RNA lässt es in menschlichen Zellen zunächst in DNA umschreiben, die dann in den Zellkern gelangt und ins menschliche Genom eingebaut wird.
Coronaviren haben zwar ebenfalls RNA als Erbsubstanz, aber die bleibt außerhalb des Zellkerns. Im menschlichen Erbgut hinterlassen Coronaviren keine Spuren. Damit sich Erbgut der beiden Virenarten aber mischen könnte – etwa in einem Menschen, der gleichzeitig mit HIV und Coronaviren infiziert ist – müssten die beiden Viren ihre Gene am selben Ort in den Zellen kopieren lassen.
Trotzdem sind solche Rekombinationen von Viruserbgut denkbar, sagt Lars Hangartner. Der Schweizer HIV-Spezialist, der inzwischen bei dem privaten Forschungslabor Scripps in La Jolla in Kalifornien arbeitet, hat das Phänomen selbst 2009 beschrieben: In seinem Zürcher Labor schlüpfte ein RNA-Virus in den Zellkern einer Menschenzelle, weil der Forscher es mit einem „Retrotransposon“ zusammenbrachte. Retrotransposons stammen aus überstandenen Infektionen mit Retroviren, sind also mit Retroviren vergleichbar. Auch sie haben die Enzyme an Bord, die RNA in DNA umschreiben.
In Hangartners Versuch übersetzte es das Erbgut des RNA-Virus in DNA. Am Ende fand er das Virus zusammen mit dem Retrotransposon fest eingebaut im Erbgut der Wirtszelle. Wäre also HIV gleichzeitig mit einem Coronavirus in einer Wirtszelle, hätten sie sich mischen können. Theoretisch.
Aber der Beweis fehlt. Die HIV-ähnlichen Sequenzen, die Kundu im Coronavirus gefunden hat, seien „viel zu kurz, um etwas aussagen zu können“, sagt Hangartner. Bei so einer Mischung wäre das Mischvirus eher HIV mit Coronabruchstücken als umgekehrt. Und was Kundu „Insertionen von HIV“ nennt, sind nur 15 bis 21 Erbgutbausteine lang und ähnele drei verschiedenen HIV-Typen aus Thailand, Indien und Kenia. Wie hätten die sich in einem Wirt mischen sollen? Die Ähnlichkeit zu HIV-Abschnitten könne schlicht Zufall sein.
Sturm der Kritik
Mit der Kritik ist der Schweizer nicht allein. Sofort, nachdem Kundu sein Manuskript auf BioRxiv online gestellt hatte, brach ein Sturm der Kritik los. Manche Kommentatoren gehen tief ins technische Detail. Andere ärgern sich auch bloß über den Titel der Arbeit. „Unheimliche Ähnlichkeit von einzigartigen Insertionen“. Ein Forscher vom RKI sagt dazu: „Also wirklich, das ist keine Wissenschaft, das ist reißerisch!“
Inzwischen ist das Manuskript offline, nur noch die Überschrift ist zu finden – mit dem Hinweis, dass die Ergebnisse gerade überarbeitet würden. Dem Tagesspiegel gegenüber mochte sich Kundu dazu nicht äußern.
Doch die Theorie vom HIV-Corona ist damit nicht aus der Welt. Auf einer Website für Liebhaber von Verschwörungstheorien etwa wird die Mär weitergetragen – und ausgeschmückt: Kundus Arbeit sei ein Hinweis, dass 2019-nCoV womöglich eine absichtlich konstruierte Biowaffe sei. Hangartner meint dazu, es würde für einen Biowaffenbauer „wenig Sinn machen, das so zu konstruieren.“ Denn die von Kundu identifizierten angeblichen HIV-Abschnitte sind ausgerechnet solche, die keine besondere Funktion haben.