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Isot Kilian im Garten der Arbeitersiedlung Elsengrund mit ihren Eltern Götz und Liddy Kilian.
© Privatbesitz

85. Jahrestag der Köpenicker Blutwoche: „Guck mal, da ist ja dein Vater!“

Früher NS-Terror: Vor 85 Jahren begann die „Köpenicker Blutwoche“. Opfer und Täter waren Nachbarn, die Nachkommen ringen bis heute mit den Folgen.

Zehn Hausdurchsuchungen musste die Familie Kilian seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten über sich ergehen lassen. Am 21. Juni 1933 kamen sie zum elften Mal, am ersten Tag der „Köpenicker Blutwoche“. An diesem Tag begann die Köpenicker SA eine groß angelegte Verhaftungsaktion und umstellte die Siedlung Elsengrund. Den Nazis war die idyllische Siedlung am Waldrand aufgrund ihrer Bewohner – Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschafter – verhasst. Auch die Kilians lebten hier. 1923 waren Götz und Liddy Kilian in eines der neuen hellen Reihenhäuser mit Schuppen und Nutzgarten eingezogen.

Seit 1919 KPD-Mitglied arbeitete Liddy etliche Jahre im Karl-Liebknecht-Haus, der Zentrale der kommunistischen Partei. Als Köpenicker Bezirksverordnete bemühte sie sich um die Erwerbslosenfürsorge und setzte sich für Frauenrechte ein. Ihr Mann Götz war Stadtrat und Bürgerdeputierter für Kunst und Kultur. Der gelernte Verlagsbuchhändler gründete den Verlag Neues Dorf, der kommunistische Literatur zur Agrarfrage verbreitete. Das junge Paar lebte für die kommunistische Idee. Doch das Jahr 1933 änderte alles: Die neunjährige Isot und ihre beiden Geschwister mussten oft auswärtig übernachten, weil sie zu Hause nicht mehr sicher waren oder weil die Eltern nicht zurückkehren konnten, wenn die SA das Haus wieder umstellt hatte.

Erneut wurde Götz abgeholt und in das nahe gelegene SA-Sturmlokal verschleppt. Isot kam gerade aus der Schule, als sie ihren Vater auf der Pritsche eines Lastwagens sitzen sah und eine Freundin sagte: „Guck mal, da ist ja dein Vater!“ Schließlich musste Götz zusammen mit etlichen anderen zu Fuß den Weg in das stillgelegte und nun von der SA genutzte Amtsgerichtsgefängnis antreten. „Alle gingen an mir vorbei, auch mein Vater. Ich war ganz stumm und starr vor lauter Schrecken“, erinnerte sich Isot später.

Die Schreie der SA-Opfer waren in Köpenick weithin hörbar

Der frühe NS-Terror fand nicht anonym im geschlossenen Raum statt, sondern war ein Akt öffentlicher Gewalt. Ausgeübt auf lokaler Ebene von Stürmen der SA und SS, richtete er sich gegen die eigenen Nachbarn, gegen Bekannte und Kollegen. Der Terror vollzog sich meist im urbanen Mikroraum und diente gerade hier der Machtdemonstration gegenüber der zuschauenden Bevölkerung. Verheimlicht wurde nichts – ganz im Gegenteil.

Die eruptiven Gewaltakte, die sich im Frühjahr und Sommer 1933 überall im Reich zutrugen, boten günstige Experimentierfelder für die Nationalsozialisten. Als sie im Juni in Köpenick Hunderte Oppositionelle festnahmen, war die zivilgesellschaftliche Gegenwehr nur schwach. Ein zeitgenössischer SA-Bericht notierte: „Die Bevölkerung von Köpenick regt sich nicht darüber auf, dass etwas geschieht, sondern lediglich über die Art, wie die Aktionen ausgeführt werden.“

Die Schreie der in dem ehemaligen Amtsgerichtsgefängnis im Herzen Köpenicks Misshandelten waren weithin hörbar. Der Boden des Betsaals der Gefängniskapelle war blutüberströmt. Hier mussten die Verhafteten unglaubliche Schikanen über sich ergehen lassen. Statt der republikanischen Farben mussten Sozialdemokraten „Schwarz-Rot-Scheiße“ angeben. Kommunisten wurden gezwungen, die ermordete Rosa Luxemburg als „Hure“ zu bezeichnen. Die ersten Konzentrationslager und Folterstätten waren tatsächlich „Labore der Gewalt“ und gaben einen Ausblick auf das sich später entwickelnde Konzentrationslagersystem und die Verstetigung der nationalsozialistischen Herrschaft, betont der Historiker Stefan Hördler.

Junge Männer, die sich vom SA-Eintritt Vorteile versprachen

Die Macht der Nationalsozialisten schien im Frühsommer 1933 keineswegs gefestigt zu sein. Die Ausschaltung der Opposition gelang jedoch in atemberaubendem Tempo: Auf die Reichstagsbrandverordnung und das KPD-Verbot folgte die Gleichschaltung der Gewerkschaften. Am 22. Juni 1933 verbot Reichsinnenminister Wilhelm Frick die SPD.

Die „Sturmabteilung“ (SA) – Parteiarmee und Schlägertruppe – war das Instrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahmen. Sie war in kürzester Zeit zu einem Millionenheer angewachsen. Allein der Köpenicker Sturmbann hatte 900 neue Mitglieder und schwoll auf eine Stärke von über 1300 Mann an. Die Mischung aus jungen Männern, die sich durch den SA-Eintritt Vorteile und Jobs versprachen, sowie denjenigen, die als „Alte Kämpfer“ schon früh Teil der NS-Bewegung wurden und nun nach Rache sannen, trug ihren Teil zur Eskalation der Gewalt bei.

Kurt Fechner war einer von ihnen. Sein Lebenslauf ist der von Tausenden „Alten Kämpfern“. Er begann eine Maurerlehre und hatte eine Anstellung in einer – wie er sich ausdrückte – „jüdischen Firma“, die er angeblich „aufgrund meiner nationalsozialistischen Einstellung“ verlor. Schließlich wurde er von Joseph Goebbels’ Tageszeitung „Der Angriff“ eingestellt und verkaufte das Hetzblatt von da an jeden Tag am S-Bahnhof Friedrichshagen. Schon 1929 war er der Hitlerjugend beigetreten, bekam das NSDAP-Parteibuch. Da hatte die Partei ihre großen Wahlerfolge noch vor sich.

Fechner verschleppte schon im März 1933 politische Gegner in das alte Bootshaus des sozialdemokratischen „Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold“, das die SA besetzt hatte. Auch während der „Köpenicker Blutwoche“ beteiligte er sich an Festnahmen und Misshandlungen. So war er dabei, als der Kommunist Karl Pokern ermordet, seine Leiche in einen mit Steinen beschwerten Sack gesteckt und bei Wendenschloss ins Wasser geworfen wurde.

Ein anderer, der sich mit dem Verkauf der kommunistischen „Roten Fahne“ verdingte, entging den Folterungen offenbar nur, weil er und Fechner sich vor der Machtübernahme am Friedrichshagener Bahnhof tagein, tagaus gegenübergestanden hatten, um ihre Zeitungen zu vertreiben. Hatte der überzeugte Nationalsozialist Skrupel? Wollte er einen möglichen Zeugen der Misshandlungen wieder loswerden?

Familie Kilian floh nach Hamburg, aber auch dort drohte Verfolgung

Am 26. Juni 1933 wurde die Köpenicker Terroraktion für beendet erklärt. Sie hinterließ etliche Todesopfer. Die Zahl der Toten stieg in den kommenden Wochen, weil die in die Dahme geworfenen Leichen erst nach und nach gefunden wurden. Der Sozialdemokrat Anton Schmaus, der in Notwehr drei SA-Männer niedergeschossen hatte, erlag nach monatelangem Krankenhausaufenthalt im Januar 1934 seinen Verletzungen. Er hatte sich selbst der Polizei gestellt, wurde jedoch im Polizeipräsidium am Alexanderplatz von einem rachsüchtigen Köpenicker SA-Trupp gestellt und durch einen Schuss schwer verwundet.

Götz Kilian überlebte die Misshandlungen, war aber übel zugerichtet und litt bis zu seinem frühen Tod unter Schmerzen. „Hätte man mich nur gleich totgeschlagen“, soll er gesagt haben. Isot wurde fortan in der Schule schikaniert. Um weiterer Verfolgung zu entgehen, verließen Götz und Liddy Kilian mit den Kindern Berlin und zogen nach Hamburg. Doch auch hier waren sie nicht sicher. 1938 wurde Götz von der Gestapo verhaftet. Zwei Jahre später erlag der 47-Jährige den durch die SA im Juni 1933 zugefügten Verletzungen. Nach Kriegsende kehrte Liddy mit Tochter Isot nach Köpenick zurück. Isot Kilian wurde Schauspielerin und arbeitete am neu gegründeten Berliner Ensemble mit Bert Brecht und Helene Weigel zusammen.

Und Kurt Fechner? Seine frühe Hingabe für die NS-Bewegung verhalf ihm nach der Machtübernahme zu einer Arbeit bei der BVG. In der Wehrmacht diente er als Funker und geriet mit Kriegsende in alliierte Gefangenschaft. Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes bereute er nichts. Seine Täterschaft als Köpenicker SA-Mann verheimlichte er jedoch, schließlich wurde er in der DDR gesucht. Seine Tochter berichtet, dass nie Fechners Name auf den an die ostdeutsche Verwandtschaft adressierten „Westpaketen“ stehen durfte. Gleichwohl lebte der gelernte Maurer unbehelligt bei Köln und verstarb 1973.

Nach Jahren, in denen sie haderte, habe sie nun ihren Frieden mit ihrem Vater gemacht, sagt die Tochter von Kurt Fechner. „Vielleicht hört ja doch mal der eine oder andere hin, den etwas davon anrührt.“ Ihre Hoffnung kann auch als Mahnung verstanden werden, angesichts des Erstarkens extrem rechter Gruppierungen nicht wegzusehen. Der Enkelin von Götz Kilian fällt es nicht leicht, über das Schicksal ihres Großvaters zu sprechen. „Ich fang immer an zu heulen, wenn’s um die ‚Köpenicker Blutwoche‘ geht. Ich weiß nicht, warum.“ Zwei Familiengeschichten, die unterschiedlicher kaum sein könnten und doch auf tragische Weise verwoben sind. Auch 85 Jahre nach den Köpenicker Ereignissen hinterlassen sie Spuren.

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg. Informationen zu aktuellen Gedenkveranstaltungen finden sich auf der Homepage der „Gedenkstätte Köpenicker Blutwoche“.

Yves Müller

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