Saisonale Influenza: Grippewelle trifft USA härter als Europa
In Kalifornien werden Patienten in Zelten isoliert, weil dort aggressive Influenzaviren kursieren. Ob Europa Ähnliches bevorsteht, ist offen.
Seit kurz vor Weihnachten wurden es immer mehr: fiebrige, hustende, erschöpfte Menschen, für die die Ärzte sogar ein Zelt auf dem Parkplatz des Loma Linda University Medical Centers nahe Los Angeles errichten ließen. Etwa 60 Patienten mehr als üblicherweise melden sich dort täglich, seit die Grippewelle die Region erfasst hat.
Heftigster Ausbruch seit 2009
Jahr für Jahr ziehen Influenza-Viren in den Wintermonaten über den Globus und lösen hohes Fieber, Halsschmerzen und Husten, sowie Kopf- und Gliederschmerzen aus. Wie viele Menschen Symptome entwickeln und ob sie mehr oder minder schwer erkranken oder gar sterben, hängt zum einen von der körperlichen Verfassung des Infizierten und der Menge der eingeatmeten Viren ab. Zum anderen ist aber auch der Virus-Typ entscheidend für den Krankheitsverlauf. In diesem Jahr sind in den USA vor allem Influenza-Viren vom Typ H3N2 im Umlauf. Sie haben mittlerweile zu so vielen Infektionen und auch Todesfällen geführt, dass man dort vom heftigsten Ausbruch seit 2009, dem Jahr der „Schweinegrippe“, spricht.
„Die USA erleben gerade eine sehr schwere Grippesaison“, sagt Giovanni Mancarella von der ECDC, der Europäischen Seuchenbehörde. Das Virus vom Typ H3N2 infiziert bevorzugt Menschen über 60 Jahren und sehr junge Kinder. Es geht auch mit einer relativ hohen Sterberate einher. „In Europa gab es 2014/15 und 2016/17 eine vergleichbare Saison“, sagt Mancarella.
Diesmal könnte dieser Kelch jedoch an Europa vorbeigehen. Denn bislang kursieren in den Mitgliedsländern, auch in Deutschland, vor allem Influenza-Viren vom Typ B. Dieser befällt ältere Menschen weniger stark und verursacht weniger gefährliche Symptome. Allerdings vermehrt sich dieser Typus sehr aktiv in Kindern. „Vor allem Kinderstationen in den Kliniken und Kinderärzte dürften die Auswirkungen derzeit spüren“, sagt Mancarella. Nichtsdestotrotz ist in einigen europäischen Ländern auch, wie in den USA, H3N2 unterwegs. Und beispielsweise in Frankreich tritt derzeit die ebenfalls recht aggressive H1N1pdm09-Variante auf, die vor allem Menschen jüngeren und mittleren Alters schwer erkranken lässt. Bislang seien aus den elf Mitgliedsländern, die Daten an die ECDC senden, etwa 3000 Einweisungen auf Intensivstationen gemeldet worden. „Die meisten davon sind mit H3N2 infiziert worden und im mittleren Alter“, sagt Mancarella.
50 Millionen Grippefälle in Europa
Diese Zahl ist allerdings nicht außergewöhnlich, und, so makaber es klingen mag, auch nicht die bisherige Zahl der Todesfälle: In jeder Saison sterben schätzungsweise 290 000 bis 646 000 Menschen weltweit an Influenza, sagt Mancarella. „In der EU ist die saisonale Influenza noch immer die übertragbare Krankheit mit der höchsten Morbidität und Mortalität.“ In Europa haben bis zu 50 Millionen Menschen jährlich Schätzungen zufolge mit Grippesymptomen zu kämpfen, zwischen 15 000 und 70 000 sterben daran. „In dieser Saison melden Schottland, Portugal, Italien und Spanien übermäßige Sterberaten“.
Ob sich die aggressive H3N2-Variante noch weiter über Europa verbreiten wird und ähnliche Szenarien wie in den USA drohen, lässt sich bislang nicht vorhersagen. Wer sich angesichts dieser Unsicherheit noch impfen lassen will, bekommt allerdings möglicherweise ein Problem: Da es mindestens zehn bis zwölf Tage braucht, bis der Impfstoff seinen Effekt im Immunsystem hinterlassen hat und Schutz bietet, könnte eine Impfung für viele zu spät kommen, meint der Influenzaforscher Peter Palese vom Mount Sinai Hospital in New York. „Aber für einige Gruppen, etwa Reisende oder immungeschwächte Personen, wäre es dennoch sinnvoll.“ Auch Kinder, die besser als Ältere auf den Impfstoff ansprechen und eine Schlüsselrolle in der Verbreitung spielen, sollten geimpft werden. Wer schon im Herbst geimpft wurde, brauche aber keine Auffrischung. (Wie man sich sonst vor einer Grippe-Infektion schützen kann: siehe hier.)
Optimal schützt der diesjährige Impfstoff allerdings nicht, jedenfalls nicht in den USA. Das liegt daran, dass sich Grippeforscher schon Monate im Voraus entscheiden müssen, welche Virusvarianten im Folgejahr höchstwahrscheinlich zirkulieren werden – die Produktion so großer Mengen Impfstoffe dauert ihre Zeit. Leider liegen die Experten mit ihren Prognosen nicht immer richtig.
Universal-Impfstoff im Test am Menschen
Gegen die in Europa kursierenden Viren ist der Impfstoff allerdings sogar „wirksamer als wir es uns erhofft haben“, meint Mancarella. Dabei ist in dem Impfstoff, der drei Virusvarianten enthält, keine enthalten, die direkt gegen die hierzulande überwiegend verbreitete B-Variante schützt. Dennoch lehrt die Vakzine das Immunsystem, auch gegen die B-Stämme vorzugehen. Forscher nennen das „cross protection“. Auch der Schutz gegen H1N1 ist gegeben. „Gegen H3N2, der nur in kleinen Teilen Europas kursiert, wird der Impfstoff aber nicht besser schützen als in der Saison 2016/17“, sagt Mancarella.
Aufgrund der Prognose-Problematik bemühen sich Forscher wie Peter Palese schon seit langem um einen Universalimpfstoff. Bisherige Impfstoffe lehren das Immunsystem, die jeweilige äußere Struktur eines Virus zu erkennen: das Hämagglutinin. Diese Proteine, die wie Baumkronen aus der Virushülle ragen, sind jedoch sehr variabel zwischen den Virusstämmen, so dass ein Impfstoff nicht mehr wirkt, sobald diese Krone bei einem anderen Grippevirustyps ein wenig anders aussieht. Paleses Team hat einen Impfstoff entwickelt, der das Immunsystem lehren soll, nicht gegen die Hämagglutinin-Krone vorzugehen, sondern gegen den Stamm. Diese Region unterscheidet sich von Variante zu Variante viel weniger. „Wir testen diese Impfstoffe derzeit in zwei klinischen Studien der Phase I.“ Einer davon wird von der Pharmafirma Glaxo Smith Kline, der andere von der Bill und Melinda Gates Stiftung finanziert. Wann ein solcher Impfstoff auf dem Markt sein könnte, falls er denn funktioniert, hänge vor allem von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde ab und wie penibel und langwierig deren Prüfung sei. „Ich glaube fest daran, dass wir es schaffen können, so einen Universalimpfstoff zu entwickeln.“ Bei Mäusen und Frettchen funktioniere er jedenfalls schon hervorragend.
Jubiläum ohne Grund zu feiern
Bis zum März, dem hundertjährigen „Jubiläum“ der Grippe-Pandemie 1918, wird Paleses Impfstoff jedoch sicher nicht fertig sein. Schätzungsweise 500 Millionen Menschen infizierten sich damals, zwischen 50 und 100 Millionen Menschen starben – nicht nur, weil damals eine Grippevariante (H1N1) kursierte, mit denen die Körperabwehr der Menschen damals noch nie zuvor zu tun gehabt hatte.
Aber auch ohne Impfstoff sei man „heute in einer viel besseren Situation als 1918“, sagt Palese. „Damals wusste man noch nicht einmal, was die Krankheit überhaupt auslöst. Erst 1933 wurden Influenzaviren überhaupt entdeckt.“ Zum anderen gebe es mittlerweile Medikamente, die die Vermehrung des Virus hemmen, Antibiotika, die sekundäre Infektionen mit Bakterien bekämpfen können, und Impfstoffe, die zwar keinen perfekten, aber doch erheblichen Schutz vor einer Pandemie böten. „Aber“, warnt Mancarella, „auch hundert Jahre nach der 1918er Pandemie haben wir noch immer keinen fehlerfreien Mechanismus, um eine Pandemie zu verhindern.“