Toxikologie: Gift fürs Gemüt
Hölderlin war nicht psychisch krank. Verrückt war nur seine Behandlung, sagt ein Arzneimittelexperte.
Nach glanzvollen Anfängen lebt ein deutscher Dichter 36 Jahre lang in einer Tübinger Turmstube. Lebensuntüchtig, unter Vormundschaft gestellt und menschenscheu wird er von einem Schreiner und seiner Familie umsorgt. War Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843) in dieser Zeit „geistig umnachtet“, litt er womöglich an einer Schizophrenie? Diese Frage, die in den Augen mancher auch ein Urteil über den Wert seiner späten Gedichte beinhaltet, beschäftigt seit zwei Jahrhunderten Germanisten und Psychiater.
Schleichende Vergiftung
„Hölderlin war nicht verrückt“, nennt nun der Pharmakologe Reinhard Horowski seine Streitschrift. Er meint, der Dichter sei von Ärzten – in bester therapeutischer Absicht – schleichend vergiftet worden. In einer Lebensphase, in der ihn der Tod seiner geliebten „Diotima“ Susette Gontard und die Enttäuschung seiner Hoffnung auf politische Veränderungen zutiefst niedergeschlagen und zeitweilig in eine Depression getrieben haben.
Es begann mit dem Gefälligkeitsgutachten eines befreundeten Arztes, der Hölderlin einen Verwirrtheitszustand attestierte und so einen Prozess wegen Hochverrats und lebenslange Kerkerhaft im württembergischen Landeszuchthaus auf dem Hohenasperg ersparte. Die These, die Diagnose sei nur zu diesem Zweck gestellt worden, vertrat der französische Germanist und Hölderlin-Biograf Pierre Bertaux schon in den 1970er Jahren. Folgt man dem Pharmakologen Horowski, dann kam Hölderlin vom Regen des drohenden Prozesses in die Traufe einer nicht weniger folgenreichen Behandlung, die ihn erst wirklich krank machte.
Quecksilberhaltiges Kalomel in hoher Dosierung
In der Nervenklinik in Tübingen ist ihm neben dem Tollkirschen-Extrakt Belladonna und Opium, die beide „dämpfend“ wirken sollten, einem erhaltenen Rezeptbüchlein zufolge nämlich auch Kalomel in hoher Dosierung verabreicht worden. Die Quecksilberverbindung (Dimercuri-Dichlorid) wirkt als drastisches Abführmittel. Hölderlin bekam es möglicherweise auch gegen Verstopfung, die durch das Opium hervorgerufen wurde. Die giftige Substanz könnte ihm Körper und Seele nachhaltig ruiniert haben, meint Horowski.
Die Hypothese klingt bestechend: Gelingt es der Quecksilberverbindung, bis ins Gehirn zu gelangen, dann hat sie dort eine Halbwertszeit von fast 30 Jahren. Dass Menschen sich unter ihrem Einfluss verändern, dass sie menschenscheu werden, Ängste entwickeln, aber auch plötzliche Wutanfälle bekommen können, ist bekannt. Auch Zittern und unmotivierte Zuckungen, über die Zeitzeugen berichten, passen ins Bild.
Horowski führt das Beispiel des amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln an, der zeitweise kalomelhaltige Pillen einnahm, in schwere Melancholie verfiel und plötzlich heftige Wutanfälle bekam. „Er erkannte aber zu seinem Glück, dass die kleinen blauen Pillen an diesen seinen Verhaltensstörungen schuld waren und vermied so – wohl ganz knapp – eine dauerhafte Quecksilber-Vergiftung.“ Von ähnlichen Veränderungen im Verhalten und Empfinden sei auch Isaac Newton geplagt gewesen, der aufgrund seiner Untersuchungen von Metallen und Erzen über längere Zeiträume Quecksilber eingeatmet haben muss. Auch die „verrückten Hutmacher“ in „Alice im Wunderland“ könnten einen solchen Hintergrund haben: Nach England eingewanderte hugenottische Hutmacher haben sich, wie Horowski berichtet, zeitweise einer Methode bedient, Filzhüte durch Quecksilber-Nitrat-Lösung in Form zu bringen.
Einfluss auf Hölderlins Dichtung zweifelhaft
In Hölderlins Fall war es eine Kombinationsbehandlung, die besonders verheerende Auswirkungen hatte. Er bekam zeitweise zur Aktivierung auch den giftigen Stoff Cantharidin, der aus verschiedenen Insekten gewonnen und als „Spanische Fliege“ bekannt wurde: Ein Mittel, das die Schleimhäute des Magen-Darm-Trakts zerstören kann. Auf diese Weise sei Hölderlin von dem fachlich „modernen“, in den USA ausgebildeten Tübinger Klinikarzt Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth „sicher in bester Absicht de facto vergiftet“ worden. Zu seinem „Dämmerzustand“ habe zudem die nach seinem Tod bei der Autopsie festgestellte Verkalkung der Aortenklappe des Herzens beigetragen, die ihn nachts wegen Luftnot nicht zur Ruhe kommen ließ.
Seine Theorie sei nicht bewiesen, gibt der Pharmakologe zu. Sie habe aber den Vorzug, dass man sie empirisch widerlegen könne, falls sich irgendwo auch nur eine einzige Locke des Dichters finde. Denn in den Haaren könnte man auch heute noch einen erhöhten Quecksilbergehalt sowie prinzipiell auch Spuren von Atropin (aus Belladonna) und Morphin (aus der Opium-Tinktur) feststellen.
Dass erst die harte „Kur“ mit diesen Stoffen den Verfasser des „Hyperion“ dauerhaft krank gemacht haben könnte, ist eine bedrückende Vorstellung. Das letzte Wort in dieser Sache muss mit der neuen Streitschrift aber nicht gesprochen sein. Auf das Urteil über seine Werke sollte seine Krankengeschichte ohnehin keinen Einfluss nehmen. „Es ist unfruchtbar, auf Hölderlin'sche Dichtungen grobe psychopathologische Kategorien anzuwenden“, befand der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers schon im Jahr 1922.
- „Hölderlin war nicht verrückt“; Reinhard Horowski; Klöpfer & Meyer 2017; 20 €