Im Kino: "Der Schmetterlingsjäger": Der Weiterträumer
Harald Bergmann ist ein außergewöhnlicher Filmemacher und Detektiv der Literatur. Er zeigt Hölderlin in der Kirche, im Kino läuft jetzt sein Nabokov-Porträt „Der Schmetterlingsjäger“.
Ein Film über Vladimir Nabokov, ausgerechnet über ihn, den eleganten, evasiven Einzelgänger der modernen Weltliteratur?
Jeder mit allen üblichen Wassern gewaschene Plot-Regisseur hätte wohl schnell ein Jahrhundert-Panorama vor Augen: Nabokov, ein Kind der luxuriösen russischen Großbourgeoisie, Enkel eines zaristischen Ministers, flieht als 18-Jähriger mit der Familie 1917 vor der Revolution aus Sankt Petersburg nach Deutschland. Vladimir, schon ein hochbegabter russischer Jungdichter, studiert kurz in England, schreibt in Berlin seine ersten Romane und gibt schönen jungen Damen Tennisstunden auf den bis jetzt noch existenten, mittlerweile jedoch schändlich verrottenden Sandplätzen hinter der heutigen Schaubühne. Sein Vater wird 1922 bei einer Versammlung russischer Exilanten in der Philharmonie erschossen, vor dem Zweiten Weltkrieg emigriert Vladimir mit seiner jüdischen Frau Véra aus Hitler-Deutschland über Frankreich nach Amerika, schlägt sich dort durch als Provinzprofessor und Schmetterlingsjäger, beginnt auf Englisch zu schreiben und wird Ende der 1950er Jahre sehr spät noch weltberühmt und (wieder) reich durch den Erfolg seiner lange umstrittenen „Lolita“-Geschichte.
Nabokov zieht hierauf in die Schweiz, lebt und schreibt von da an bis zu seinem Tod 1977 in einer Suite des Grandhotels „Montreux Palace“ am Genfer See.
Dieser Schriftsteller, der nie in irgendeinem Mainstream schwamm, war auch ein Kinoliebhaber. Aber er hätte ein chronologisches, vermeintlich „realistisches“ Biopic gehasst. Vladimir Nabokov, der seine wenigen Interviews nur zu schriftlich eingereichten Fragen gab, worauf er den dann leibhaftig einbestellten Interviewern seine schriftlich verfassten Antworten vorlas, er war für die Öffentlichkeit real nur durch seine Sprache. Und durch die Sammlung und wissenschaftliche Klassifikation seiner Schmetterlinge. Alles andere, die Neugier von Reportern auf der Suche nach Personality-Storys, nannte er „den Leuten blindlings unter die Röcke schauen“.
Also hat der Berliner Filmemacher Harald Bergmann in seiner soeben in die Kinos gekommenen Doku-Fiktion „Der Schmetterlingsjäger“ etwas ganz anderes als ein handlungsübliches Porträt entworfen. Ein Vexier- und Elixirspiel mit dem Untertitel „37 Karteikarten zu Nabokov“.
Nabokovs Sohn Dmitri ist einer der Hauptdarsteller
Einer der Hauptdarsteller ist dabei Nabokovs 1934 in Berlin geborener Sohn Dmitri, ein ehemaliger Ferrari-Rennfahrer und Opernsänger, der einst mit Pavarotti und Montserrat Caballé auf der Bühne stand. Er spricht im Film mehrfach Texte seines Vaters, englisch, mit seinem melodischen Bass, einmal liegt der schwere Mann in seiner Wohnung hoch über Montreux und dem „Palace“-Hotel auf dem Bett und sagt: „I am weak … I may die tonight.“ Es sind Sätze aus Vladimir Nabokovs wunderlichem Roman „Ada oder Das Verlangen“, die Aufnahmen stammen aus dem Jahr 2010, ein Dokument, denn 2012 ist Dmitri als letzter Nabokov gestorben.
Bergmanns Film aber hat über das dokumentarisch Anklingende hinaus seine eigene Poesie. Allein schon ein kleines Kunststück ist dabei der wie ein hundertjähriger Fund eingespielte kurze SchwarzWeiß-Streifen, flimmernde Bilder, die im Garten vor einer alten Villa eine Familie aus einer anderen Zeit zeigen – und scheinbar beiläufig auch eine leere, ins Freie gestellte Kinderwiege.
Diese Sequenz, heute gedreht und später in Farbe nochmals vergegenwärtigt (Kamera: Elfi Mikesch), evoziert den Anfang von Nabokovs romanhafter Autobiografie „Sprich, Erinnerung, sprich“. Darin beschreibt der Erzähler das Erschrecken eines „Chronophobikers“, der in einem frühen Amateurfilm aus dem Archiv seiner Familie plötzlich das wenige Wochen vor seiner Geburt aufgenommene Bild der eigenen künftigen Wiege entdeckt, die „über einem Abgrund schwingt“, weil „unser Leben nur ein kurzer Lichtspalt zwischen zwei Ewigkeiten des Dunkels ist“.
Licht zwischen zwei Dunkelheiten, das ist auch das Wesen jedes Filmbilds. Ursprünglich wollte Harald Bergmann übrigens Jean-Luc Godard, der gleichfalls am Genfer See lebt, als Darsteller oder Doppelgänger Nabokovs gewinnen. Bei einem gemeinsamen Gespräch wirkte Godard, der oft mürrische Zigarrenpaffer, von dem Gedanken amüsiert, hatte er doch selbst schon in seinem berühmten Debütfilm „Außer Atem“ eine Anspielung auf Nabokov unterlegt.
Godard sagte ab, nun verkörpert der Autor und Medienkünstler Schuldt, abwechselnd mit dem in Paris lehrenden Philosophen Heinz Wismann, allerlei Anspielungen auf die Person des Dichters und mit dem Schmetterlingsnetz durch Bergwiesen streifenden Jägers. Godards Satz, ein Film müsse einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, galt auch für Nabokovs Einspruch gegen das chronologische Erzählen: für seinen Protest gegen die angeblich unverrückbare Trias aus Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.
Seite 2: Nabokovs Lebensreise wird als Fahrt durch die Alpen inszeniert
Die leere Wiege im zitierten Erinnerungs-Bild wirkt erschütternd, weil sie das Symbol der eigenen Vorzeit ist und den Betrachter so bereits zwangsläufig zum Nachgeborenen macht. Hiergegen schrieb Nabokov an und entwarf eine eigene „Textur der Zeit“ als sensuell gesteigerte Allgegenwärtigkeit. Er mischte seine Notizen, seine „Karteikarten“, ließ die Erzählung (wie jedes kopfinnere Amalgam aus Gedanke, Erinnerung, Erwartung) auch springen. Bildsprünge, Gedankensprünge, assoziative Variationen und Reflexionen über Nabokov und die Erfahrung der Zeit sind der Stoff darum für Harald Bergmanns kühne, 135-minütige Annäherung an einen schwer Nahbaren.
Nabokovs eigene Lebensreise wird gleichsam übersetzt und verdichtet in einer den Film durchziehenden Fahrt im offenen alten Jaguar, die der Protagonist Van Veen aus dem „Ada“-Roman unternimmt: über die Alpen, am Rande von Gletschern, durch Nebel und Nacht, mit Stationen in real-fiktiven Nabokov-Hotels.
Der Mythos und das Mysterium Hölderlin fasziniert den Filmemacher
Der Autor, Komponist und Hörspielmacher Ronald Steckel gehört so als Van- Veen-Darsteller zu einem Geflecht, in dem auch in intimen, von Kerzen beleuchteten Interieurs die russischen, englischen, französischen, deutschen Stimmen aus Nabokovs poetischem Kosmos ein Konzert aus Bildern und Tönen ergeben: mit Musik von Mozart bis Karim Sebastian Elias, mit sonderbar suggestiven Szenen des erotischen Begehrens, diskret und elegisch angedeutet von Katerina Medvedeva, Corinna Kirchhoff oder Wolfgang Michael. Und manchmal in allen Komplikationen (und auch ein paar Längen) ironisch selbstreflexiv kommentiert von dem realen Philosophen Heinz Wismann und Bergmanns Alter Ego als Regisseur, dem wiederum realen Filmkünstler und Schauspieler Klaus Wyborny.
Dieser Tage ist der jetzt 51-jährige Berliner Kunstfilmer Harald Bergmann freilich auch noch mit einem viel größeren Lebensprojekt zu entdecken. Im Jahr 1989 hatte er für den WDR einen ersten Kurzfilm über Friedrich Hölderlin gedreht und zwischen 1992 und 2004 in vier insgesamt elfstündigen Filmen das Leben und Werk, den Mythos und das Mysterium des romantischen Dichters umkreist, von Hölderlins früher Lyrik, vom „Hyperion“ bis zum Tod im „Irrsal“: 1843 im Turm von Tübingen am Neckar, nach angeblich 36 Jahren geistiger Verrückung, Entrücktheit, Umnachtung.
Bergmann ist immer wieder fasziniert von den großen poetischen Außenseitern. Über den 1975 bei einem Autounfall in London umgekommenen Dichter Rolf Dieter Brinkmann („Westwärts“, „Rom, Blicke“) hat er vor sieben Jahren die mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Collage „Brinkmanns Zorn“ gedreht. Tragisch, komisch, skurril, makaber, ja: im Ganzen erschütternd. Wie im noch größeren Maßstab die filmische Riesenreise zu Friedrich Hölderlin.
Sie ist nächste Woche an drei Abenden im säkularen Inneren, im „KulturRaum“ der neogotischen Zwinglikirche von Berlin-Friedrichshain mitzuerleben. Eigentlich sollten Bergmanns Hölderlin-Archive, mit den Filmen und Projektionen der darin verwendeten Handschriften und Lesarten der berühmten Sattler’schen Gesamtausgabe, als raumfüllende multimediale Installation dort schon im April gezeigt werden. Die Bundeskulturstiftung hatte dies in der Moritzburg von Halle zuerst ermöglicht – doch für die Berliner Premiere hat der Hauptstadtkulturfonds einen beantragten fünfstelligen Zuschuss im Frühjahr überraschend (und ignorant) versagt.
Unter dem Signum „Hölderlin-Passion“ werden nun immerhin drei von vier Teilen der ursprünglichen Tetralogie gezeigt. Die Reise beginnt buchstäblich im Fluge, mit einem Segelflieger geht es in die Höhen von Hölderlins legendärem Adler: eine Luftfahrt bis hin zum Absturz, vom hymnischen Himmel in die letzte irdische Höhle, die vieleckige Tübinger Turmstube. Der fabelhafte André Wilms spielt in Murnau-haften Schwarz-Weiß-Szenen wie in einem Film im Film den Dichter; es treten auf Philosophen und Philologen, ein toller leibhaftiger, lederhäutig baumholzknorpeliger Eremit, dazu der junge Udo Samel – und die zu früh verstorbenen Schauspieler Walter Schmidinger und Otto Sander werden zum ergreifenden Epitaph: für Hölderlin und für sich selber.
Dieser erstaunlicherweise noch von jeder Berlinale übersehene Berliner Filmkünstler Harald Bergmann kommt hier Hölderlin so nah wie einst nur Klaus Michael Grüber im Theater. Und seine assoziative Mischung aus Poesie und Reflexion erinnert an Jean-Marie Straub (über den er einen frühen Film machte) und an Alexander Kluge. Keine leichte Kost. Aber kostbar.
„Der Schmetterlingsjäger“ im Delphi, Filmtheater am Friedrichshain, Kant, Kino Krokodil, Passage.
„Hölderlin-Passion“ vom 25. bis 27. 7. um 20.30 Uhr im KulturRaum Zwinglikirche am Rudolfplatz, Karten je 6 €, Vorbestellungen Tel. (030) 29005996.
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