Studien zu Armut und Gesundheit: Geld macht nicht glücklich, hält aber jung
Die gute Nachricht ist: Menschen werden heute viel älter als früher. Soziale Benachteiligung kostet jedoch Lebenszeit.
In den reichen Ländern dieser Erde war die Chance auf ein langes Leben noch nie zuvor so groß wie heute. Doch sie ist nicht für alle gleich hoch. Als Raj Chetty und seine Kollegen die durch einen Abgleich von Steuer- und Krankenkassen-Daten ermittelten Zahlen aus den USA vor zwei Jahren im Journal der American Medical Association (Jama) veröffentlichten, war das ein Schock: Ein vierzigjähriger Mann, der zu den reichsten ein Prozent des Landes gehört, lebt im Schnitt vierzehneinhalb Jahre länger als ein Geschlechtsgenosse, der zu den ärmsten ein Prozent des Landes zählt. Bei den Frauen ist der einkommensbedingte Unterschied in der Lebenserwartung etwas kleiner, beträgt aber ebenfalls mehr als zehn Jahre.
Diese Ungleichheit ist kein spezifisch amerikanisches Problem. Auch in den Niederlanden gibt es beträchtliche Unterschiede in der Lebenserwartung, obwohl das Land nicht allein geografisch, sondern auch hinsichtlich der Einkommensverteilung, der Gesundheitsversorgung und der Unterschiede im Bildungsniveau der Bürger „flacher“ als die USA ist, sagt der Gesundheitsforscher Johan Mackenbach vom Erasmus Medical Center der Universität Rotterdam. Sechs Jahre, so viel beträgt der Unterschied in der Lebenserwartung, ab der Geburt berechnet, zwischen Menschen mit einem hohen und einem niedrigen Bildungsabschluss in den Niederlanden. „Er wird deutlich größer und erhöht sich auf 16 bis 17 Jahre, wenn man nach der Lebenszeit fragt, die Menschen ohne gesundheitliche Einschränkungen verbringen“, sagte Mackenbach auf einem Symposium der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Berlin zum Thema „Gesundheitliche Ungleichheit im Lebensverlauf“.
Nachteile durch schlechteren Bildungsabschluss
Er machte zugleich deutlich, dass gesundheitliche Nachteile von Menschen mit schlechterem Bildungsabschluss in Gesellschaften noch deutlicher werden, in denen diese Gruppe dank eines durchlässigen Bildungssystems schrumpft, etwa in Norwegen. „Wird umgekehrt die Gruppe der gut Ausgebildeten größer, so nehmen ihre gesundheitlichen Vorteile dagegen nicht ab, wie Studien zeigen.“
Für Deutschland liegen ähnliche Zahlen vor, aus Daten des Sozioökonomischen Panels (Soep): 8,6 Jahre, um so viel verkürzt sich die Lebenserwartung im Schnitt bei Männern mit niedrigem Einkommen im Vergleich zu höheren Einkommensgruppen. Mehr als ein Viertel der Männer mit niedrigem sozioökonomischem Status sterben, bevor sie 65 Jahre alt sind, während es bei Männern mit mittlerem und höherem Einkommen nur 13 Prozent sind. Das vor dem Hintergrund, dass die Deutschen ohnehin die niedrigste Lebenserwartung unter Westeuropäern haben, so die „Global Burden of Disease Study“: Männer 79,5 Jahre, Frauen 84,2 (der Tagesspiegel berichtete).
Peter Haan vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin machte deutlich, dass sich auch bei der Rente ein Ungleichgewicht ergibt, wenn nicht alle Mitglieder einer Solidargemeinschaft von der gestiegenen Lebenserwartung gleichermaßen profitieren: Wer besser verdient hat, bekommt nicht nur eine üppigere Altersversorgung. Da er oder sie bessere Chancen hat, alt zu werden, wird die Rente auch länger ausbezahlt, das gesamte „Rentenvermögen“ steigt also.
28 Prozent der Mütter mit niedrigem Sozialstatus rauchen
„Die Weichen werden sehr früh gestellt“, berichtete der Soziologe Thomas Lampert vom Robert Koch-Institut (RKI), wo in mehreren großen Untersuchungen Daten zur Gesundheit der Bevölkerung erhoben werden, etwa in der KIGGS-Studie zur Kindergesundheit. 28 Prozent der Schwangeren mit niedrigem sozioökonomischem Status, aber nur zwei Prozent der werdenden Mütter mit hohem Status rauchen. Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Stillen, bei der Ernährung der größeren Kinder und beim Sport. Lampert warnte allerdings davor, aus diesen Unterschieden eine Zwangsläufigkeit abzuleiten. „Die meisten Kinder und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Gruppen wachsen gesund auf. Die Daten zeigten zudem, dass bei den Heranwachsenden, die den Sprung aufs Gymnasium geschafft haben, überhaupt kein Unterschied mehr zu „Bessergestellten“ erkennbar ist.“
Wenn es um den gesundheitlichen Lebenslauf geht, wird der Jugendzeit heute noch zu wenig Beachtung geschenkt, findet Matthias Richter, Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie der Universität Halle. Dabei ist es in biologischer und psychosozialer Hinsicht eine besondere Zeit. „In keiner anderen Lebensphase treffen so viele Einflüsse aus so unterschiedlichen Kontexten so schnell zusammen wie in der Adoleszenz.“ Im Jahr 2010 wurden im Rahmen der internationalen Jugendgesundheitsstudie „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC), die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit über 25 Jahren unterstützt und alle vier Jahre durchgeführt wird, erstmals bundesweit auch deutsche Heranwachsende zwischen 11 und 15 Jahren zu ihrer Gesundheit und ihren Lebensgewohnheiten befragt. Dabei zeigte sich, dass Hauptschüler ein dreifach erhöhtes Risiko hatten, ihre gesundheitliche Situation negativ einzuschätzen. „Wir müssen den Möglichkeitsspielraum der Adoleszenz für Veränderungen nutzen“, folgerte Richter.
Wer Vorbeugung am nötigsten braucht, scheut die Prävention
Daten aus dem Erwachsenen-Gesundheitsmonitoring des RKI zeigen, wie Lampert berichtete, dass sich bei den 18- bis 25-Jährigen das Gesundheitsverhalten stärker ausdifferenziert und verfestigt, etwa beim Rauchen. Depressionen und Angststörungen gewinnen an Bedeutung, die sich wiederum ungünstig auf die Erwerbsbiografie auswirken können. Bei den 30- bis 64-Jährigen kommen verstärkt chronische Krankheiten ins Spiel, etwa der Diabetes vom Typ 2. Frauen mit niedrigem Einkommen und niedrigem Bildungsabschluss haben ein vierfach höheres Risiko, im Lauf ihres Lebens daran zu erkranken, berichtete Lampert. Einer der wichtigsten Risikofaktoren ist Übergewicht. Unglücklicherweise verringere das „Präventionsdilemma“ die Möglichkeit, der Entwicklung vorzubeugen. „Wir wissen, dass die Gruppe mit dem höchsten Präventionsbedarf die bestehenden Angebote am wenigsten wahrnimmt.“ In der anschließenden Diskussion gab Maria Loheide vom Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland zu bedenken, die Angebote würden oft als „übergriffig“ wahrgenommen.
Barbara Hoffmann vom Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Uni Düsseldorf berichtete zudem von einem gesundheitlichen Risiko, das durch ein aufklärendes Gesundheitsgespräch nicht ohne weiteres zu beseitigen ist, nämlich der Wohnlage: Inzwischen belegen eine Fülle von Studien nicht nur einen Zusammenhang zwischen der Belastung durch Lärm und Feinstaub und Erkrankungen der Atemwege, sondern auch einen Bezug zur Intelligenz von Säuglingen, der kognitiven Entwicklung von Schülern, der Abnahme des Hirnvolumens im Alter. Auch wenn aus solchen Zusammenhängen nicht sicher auf eine ursächliche Beziehung geschlossen werden kann, bleibt das beunruhigend. „91 Prozent der Weltbevölkerung leben in einer Luft, die die Schadstoffgrenzen der WHO überschreitet“, so Hoffmann. Überwiegend trifft es sozial benachteiligte Menschen, die hinsichtlich ihrer Wohnsituation keine Wahl haben. „Die Luftverschmutzung ist das neue Rauchen“, meint die Umweltmedizinerin.
Wenn das stimmt, gibt es einen Hoffnungsschimmer. Denn beim Tabakkonsum zeichnet sich eine positive Entwicklung ab: Gaben in der KIGGS-Befragung 2003-2006 noch 21,4 Prozent der 11- bis 17-Jährigen an, dass sie gelegentlich rauchen, so waren es in der zweiten Befragungswelle 2014 bis 2017 nur noch 7,2 Prozent. Und es wird nicht nur insgesamt weniger geraucht. Wie Lampert berichtete, hat sich in diesem Punkt auch die soziale Ungleichheit etwas verringert.