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In Naturwissenschaften liegen Kinder aus sozial benachteiligten Familien laut der Pisa-Studie dreieinhalb Jahre zurück.
© picture alliance / dpa
Update

OECD zu Chancengerechtigkeit: Schüler im Milieu gefangen

Eine Sonderauswertung der Pisa-Studie 2015 zeigt: Die Chancen für Kinder aus sozial schwachem Umfeld nehmen nur langsam zu. Experten fordern mehr Ganztagsschulen.

Deutschland muss mehr tun, um Bildungschancen für sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler zu erhöhen. Das fordert die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

So müsse unter anderem die frühkindliche Bildung gestärkt werden. Anlass ist eine Sonderauswertung der Pisa-Studie von 2015 zur Chancengleichheit im Bildungswesen, die am Dienstag veröffentlicht wurde.

Leistungsunterschiede von Schülern

Wie sehr der Bildungserfolg vom sozialen Hintergrund abhängt, zeigt sich in den Pisa-Ergebnissen von 2015, die für die Sonderauswertung erneut herangezogen werden. 15-Jährige aus sozial benachteiligten Familien erzielten damals in Deutschland in den Naturwissenschaften 466 Punkte, 103 Punkte weniger als Jugendliche mit privilegierten Eltern. Das entspricht einem Lernrückstand von dreieinhalb Jahren. Im OECD-Unterschied beträgt der Unterschied nur 88 Punkte, also drei Jahre. Die Lernunterschiede würden sich bereits bei Zehnjährigen ausbilden und über die Jahre immer stärker werden, heißt es bei der OECD.

Die Bildungsforscher schreiben für Deutschland 16 Prozent der Varianz bei den Schülerleistungen dem sozioökonomischen Hintergrund zu (OECD-Schnitt: 13 Prozent). Der Zusammenhang schwächte sich in Deutschland aber ab (2006 lag der Wert noch um vier Prozentpunkte höher) – und zwar schneller als im OECD-Schnitt in dem Zeitraum. Verbesserungen bei der Chancengleichheit gab es auch im Lesen und in der Mathematik, den beiden anderen Pisa-Testfeldern. „Deutschland gehört zwar zu den Ländern, in denen es noch eine große Schere gibt, aber sie bewegt sich aufeinander zu“, erklärte OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher. Zu den benachteiligten Schülern zählt die OECD die untersten 25 Prozent in einem für die Pisa-Studie herangezogenen Sozialindex.

Wie groß die Chancengleichheit ist, machen die Forscher auch daran fest, wie viele 15-Jährige es trotz schwieriger Voraussetzungen in die Spitzengruppe schaffen. In Deutschland sind das 10,4 Prozent, was knapp unter dem OECD-Schnitt von 11,3 Prozent liegt. Vorn liegen Estland und Finnland, wo mehr als 14 Prozent dieser Schüler zur Spitzengruppe gehören (siehe Grafik).

Zusammensetzung der Schülerschaft

Fast die Hälfte aller sozial benachteiligten Schüler (46 Prozent) besucht in Deutschland Schulen, in denen die Mitschüler aus einem ähnlichen Milieu stammen. Mit dem Wert liegt Deutschland knapp unter dem OECD-Schnitt (48 Prozent). Länder wie Finnland (40 Prozent), Schweden (41 Prozent) und Norwegen (42 Prozent) schaffen es aber besser, die Milieugrenzen in der Schule aufzubrechen.

Die betreffenden Schulen sind oft schlechter ausgestattet, heißt es in der Studie. Tatsächlich schneiden sozial benachteiligte Jugendliche deutlich besser ab, wenn sie mit bessergestellten Schülern in eine Klasse gehen: und zwar in Deutschland um 122 Punkte in Naturwissenschaften. Diese Werte beziehen sich auf eine andere Pisa-Sonderauswertung aus diesem Jahr. Damals hieß es auch, auf die Leistungen bessergestellter Schüler würden sich sozial gemischte Klassen nicht niederschlagen.

Zufriedenheit von Schülern

Schülerinnen und Schüler in Deutschland sind etwas zufriedener mit ihrem Leben als der OECD-Schnitt und trauen sich zu, schwierige Herausforderungen zu meistern: Das ergab bereits eine Pisa-Sonderauswertung aus dem Jahr 2017. Trotz aller Probleme gilt dieser Befund auch für benachteiligte Jugendliche. 36 Prozent sagen, sie sind zufrieden mit ihrem Leben und haben keine Schulangst. Das sind zehn Prozent mehr als im OECD-Schnitt, wobei allerdings Länder wie die Niederlande (50 Prozent) und die Schweiz (43 Prozent) beim Wohlfühlfaktor noch deutlich besser dastehen.

Bildungsabschlüsse

Die geringe soziale Durchlässigkeit im deutschen Bildungswesen zeigt sich auch daran, dass vergleichsweise wenig Erwachsenen der Bildungsaufstieg gelingt. 24 Prozent der 26- bis 65-Jährigen erzielen einen höheren Abschluss als ihre Eltern, während das im OECD-Schnitt 41 Prozent schaffen. Nur 15 Prozent derjenigen, deren Eltern kein Abitur hatten, absolvieren selber ein Studium, auch das ein unterdurchschnittlicher Wert. Diese Ergebnisse stammen aus der PIAAC-Studie, dem „Erwachsenen-Pisa“, die im Jahr 2015 veröffentlicht wurde.

Das sagt die Pädagogik

Renate Valtin, Professorin für Grundschulpädagogik a. D. an der Humboldt-Universität und Mitglied im deutschen Team der internationalen Grundschulstudie Iglu, verweist darauf, dass unter Grundschülern der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der Leistung im Lesen in den vergangenen Jahren in Deutschland sogar zugenommen hat, während er in anderen europäischen Ländern zumindest stagnierte. Gründe dafür gebe es viele. So fehle es vielen Lehrkräften an den diagnostischen Kompetenzen, die Schwächen der Schüler genau zu erkennen. Außerdem gebe es zu wenig Möglichkeiten an deutschen Schulen, Kinder zu fördern. Der Iglu-Studie zufolge bekommen zwei Drittel der Leseschwachen keine zusätzliche Förderung.

„Ganztagsschulen, die den Namen verdienen, haben wir ja auch nicht“, sagt Valtin. Wenn es um die Zuordnung der Schüler zu Schulen geht, spiele in Deutschland die Selektion beim Übergang zur Oberschule weiter eine große Rolle. Bei gleicher Intelligenz und gleichen Leseleistungen hat ein Schüler aus der Arbeiterschicht eine 3,5-mal geringere Chance, aufs Gymnasium zu kommen, als ein Schüler aus der oberen Schicht, zeigte die Iglu-Studie von 2016.

Reaktionen aus der Politik

Oliver Kaczmarek, der bildungs- und forschungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, erklärte, es sei eine schlechte Nachricht, dass in Deutschland Bildung immer noch stark von der sozialen Herkunft abhänge: „Die Investitionen in den Digitalpakt und die Ganztagsoffensive sind deshalb Zukunftsinvestitionen.“ Die Bundesregierung müsse den Koalitionsvertrag „mit Nachdruck und Ehrgeiz“ vorantreiben. Birke Bull-Bischoff, die bildungspolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, forderte einen neuen Bildungsgipfel „mit ganz konkreten, klaren Zielen und Maßnahmen, Zeitplänen und Finanzierungswegen“.

Margit Stumpp von den Grünen erklärte, der Ausbau der Ganztagsschule müsse „auf allen Ebenen“ vorangetrieben werden.

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