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Metamorphosen. Um die Verwandlung der Neutrinos zu beobachten, wurde der japanische Super-Kamiokande in einer alten Zinkmine gebaut. Der 40 Meter hohe Tank ist mit 50 000 Tonnen reinstem Wasser gefüllt, an den Wänden befinden sich 11 000 Lichtsensoren.
© Kamioka Observatorium, ICRR (Institut zur Erforschung kosmischer Strahlung), Universität Tokio

Physik-Nobelpreis: Geisterjäger im tiefen Fels

Neutrinos durchqueren Mensch und Materie – und verändern dabei ihre Form. Für diese Entdeckung erhalten Takaaki Kajita und Arthur McDonald den Nobelpreis.

Sie sind so etwas wie die Geister der Teilchenphysik. Lange Zeit blieben sie den Forschern verborgen, wurden erst 1956 entdeckt. Ihre Eigenschaften liegen weit über dem Vorstellbaren: Sie können mühelos Planeten durchqueren – und natürlich auch den menschlichen Körper, wo jede Sekunde einige Billionen davon hindurchjagen. Ohne dabei an einen Atomkern oder ein Elektron anzustoßen. Die Neutrinos, so genannt weil sie elektrisch neutral sind, sausen einfach durch die Zwischenräume hindurch. Besonders faszinierend ist allerdings, dass sie sich während des Fluges verwandeln. Drei verschiedene Varianten sind bisher bekannt, mühelos können die Neutrinos von einer Form zur nächsten wechseln. Für diese Entdeckung erhalten Takaaki Kajita und Arthur McDonald den mit umgerechnet 850 000 Euro dotierten Physik-Nobelpreis. Das gab das Nobelpreiskomitee am Dienstag in Stockholm bekannt.

Neutrinos sind schwer nachzuweisen

Die Leistung der Forscher und ihrer Teams besteht nicht allein in der Entdeckung der „Neutrino-Metamorphose“, die wichtige Teile der Physiktheorie infrage stellt. Sie haben es geschafft, Geräte zu bauen, mit denen die Geisterteilchen überhaupt nachgewiesen und erforscht werden können: Kajita und Kollegen in Japan mit dem Detektor „Super-Kamiokande“ und McDonalds Gruppe mit einer Neutrinofalle in der kanadischen Sudbury-Mine, zwei Kilometer tief im Fels.

Die Detektoren bestehen aus je einem riesigen Wasserbehälter, der von tausenden optische Sensoren umgeben ist. Damit können die Forscher extrem schwache Lichtsignale einfangen, die entstehen, wenn ein Neutrino zufällig doch einmal einen Atomkern trifft. Dann entsteht ein blauer Lichtblitz, die „Tscherenkow-Strahlung“. Aus ihren Eigenschaften können Physiker auf die Art der Neutrinos schließen.

Detektoren werden in Bergwerke gebaut, damit es weniger Störungen gibt

In der Realität ist es allerdings eine knifflige Angelegenheit, denn neben den Neutrinos rasen zahlreiche weitere Teilchen umher und donnern ebenso gegen andere Teilchen, was Tscherenkow-Strahlung erzeugt. Die seltenen Neutrinospuren drohen in der Masse der Störsignale unterzugehen.

„Um die Störungen klein zu halten, gibt es zwei Möglichkeiten“, sagt Lothar Oberauer, Neutrinoforscher an der TU München. „Erstens geht man untertage, um der kosmischen Strahlung zu entkommen. Zweitens verwendet man spezielle Materialien, die selbst möglichst wenig Strahlung abgeben.“ Für die Elektronik würden beispielsweise keine Kondensatoren verwendet, denn darin stecken – gemäß der Kriterien der Detektorkonstrukteure – zu viele radioaktive Elemente. Selbst das Wasser ist extrem rein, damit es wenig Störsignale gibt und das blaue Licht auch entfernte Sensoren erreicht.

Die Daten passten nicht zu dem, was Theoretiker vorhergesagt hatten

Es sei eine beeindruckende Leistung, so große und sensible Messgeräte unter widrigen Bedingungen zu bauen, sagt Oberauer, der McDonalds Sudbury Neutrino Observatory (SNO) besucht hat. Es befindet sich in einer aktiven Mine. 2000 Meter geht es mit den Bergleuten in einem Fahrstuhl nach unten, dann läuft man nochmal zwei Kilometer durch einen Gang und kommt ziemlich schmutzig an eine Schleuse. „Nach dem Duschen und Anziehen von Reinraum-Kleidung betritt man eine völlig andere Welt“, sagt der Physiker. Alles blitzsauber, konzentriertes Arbeiten der Forscher tief im Fels. Es sei unvorstellbar, wie all die Bauteile für den 18-Meter-Koloss samt 1000 Tonnen reinen schweren Wassers dorthin gebracht wurden, sagt Oberauer.

So werden Neutrinos aufgespürt. Die zwei Detektoren im Porträt.
So werden Neutrinos aufgespürt. Die zwei Detektoren im Porträt.
© Nobel-Komitee

Seit 1999 ist SNO in Betrieb, Super-Kamiokande seit 1996. Beide Teams merkten bald, dass die Daten nicht zu dem passten, was Theoretiker vorhergesagt hatten. Der japanische Detektor ist spezialisiert auf Myon-Neutrinos, die in der Erdatmosphäre durch den Beschuss kosmischer Strahlung entstehen. Eigentlich sollte der Detektor aus allen Richtungen die gleiche Menge dieser Teilchen erfassen, weil sie ungehindert die Erde durchqueren können.

Die Neutrinos hatten sich verändert

Tatsächlich kamen von der nahen Erdoberfläche aber wesentlich mehr Myon-Neutrinos geflogen als von der gegenüberliegenden Seite. Offenbar war auf dem längeren Weg etwas mit den Teilchen geschehen: Einige von ihnen mussten sich in Tau-Neutrinos verwandelt haben. Konnte das sein?

Der zweite Teil zur Lösung kam aus Kanada. Das SNO-Team hatte unter anderem Elektron-Neutrinos im Visier, die in der Sonne entstehen. Drei Stück gingen ihnen pro Tag in die Falle, erwartet hatten sie aber dreimal soviel. Zogen die Forscher auch die anderen zwei Neutrinoarten heran, so stimmte die Gesamtzahl wieder mit dem überein, was sie erwartet hatten. Dafür gab es nur eine Erklärung: Neutrinos verwandeln sich, wechseln zwischen den drei Formen hin und her.

Das hatte Bruno Pontecorvo bereits 1957 theoretisch vorhergesagt und mit der Quantenmechanik begründet. Er hätte also hervorragend in die Reihe der Preisträger gepasst, meint Christian Spiering vom Forschungszentrum Desy. Die Ehre blieb ihm verwehrt, Pontecorvo starb vor 22 Jahren.

Die Entdeckung birgt Zündstoff

Die Entdeckung von Kajita und McDonald birgt allerhand Zündstoff. Wenn sich Neutrinos verwandeln können, müssen sie geringfügige Unterschiede haben, sprich: Sie müssen eine Masse haben. Das aber lässt sich nicht mit dem Standardmodell der Teilchenphysik vereinen. „Alle Lehrbücher, die ich im Schrank habe, behaupten, Neutrinos wären masselos“, sagt Arnulf Quadt von der Uni Göttingen am Rande des Public Viewing der Nobelpreisbekanntgabe im Magnus-Haus der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Berlin-Mitte.

Der Münchner Physiker Oberauer stimmt zu, die Entdeckung werfe allerhand Probleme auf. „Man kann es drehen und wenden wie man will“, sagt er. „Das Standardmodell muss überarbeitet werden.“ Bis jetzt zeichne sich keine elegante Lösung ab, um den Neutrinos Masse zu geben ohne das Theoriegerüst der Physik maßgeblich zu verändern. Allerdings wissen die Forscher noch ziemlich wenig über die Geisterteilchen. Weder kennen sie ihre genaue Masse, noch warum sie solche Leichtgewichte sind. Womöglich kommen sie nicht allein in den drei bekannten Formen vor, sondern können noch weitere Zustände annehmen? Solche Fragen werden derzeit in verschiedenen Untergrundlabors weltweit bearbeitet. Allzu sicher sollten sich die Forscher bei ihren Schlüssen nicht fühlen. „Alle zehn bis 20 Jahre stellen Neutrinos unser Weltbild auf den Kopf“, sagt Quadt. Demnach dürfte es bald wieder soweit sein.

Mitarbeit: Maria Fiedler

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