Physik: Forscher jagen Geisterteilchen im ewigen Eis
Neutrinos halten unsere Sonne am Leuchten und sind doch kaum nachzuweisen. Am Südpol fangen Physiker die geisterhaften Elementarteilchen aus dem All.
Wir spüren sie nicht, aber sie sind da. Billionen winziger Teilchen durchqueren jede Sekunde unseren Körper. Sie heißen Neutrinos und sind die Geister unter den Elementarteilchen: sie interagieren kaum mit der Materie, die meisten von ihnen durchqueren ungehindert den gesamten Erdball. Physiker versuchen wenigstens einige dieser Partikel einzufangen und haben dafür am Südpol einen riesigen Detektor kilometertief ins ewige Eis gebaut. Denn so geisterhaft Neutrinos auch sind, sie spielen eine bedeutende Rolle im Gefüge unseres Kosmos.
Anfang des 20. Jahrhunderts stießen Physiker auf eine merkwürdige Erscheinung: Bei einem bestimmten radioaktiven Prozess, dem Beta-Zerfall, schien irgendwo Energie verloren zu gehen. Atomkerne bestehen aus zwei Arten von Teilchen, den elektrisch positiv geladenen Protonen und den ungeladenen, also neutralen Neutronen. Beim Beta-Zerfall wandelt sich ein Neutron im Inneren eines Atomkerns in ein Proton und ein aus dem Kern herausfliegendes Elektron um. Doch genaue Messungen zeigten, dass die beiden entstehenden Teilchen deutlich weniger Energie besitzen als das ursprüngliche Neutron.
Das aber darf nicht sein: Eines der unumstößlichen Gesetze der Physik besagt, dass Energie nicht verloren gehen kann. Um dieses Gesetz von der Erhaltung der Energie zu retten, schlug der österreichische Physiker Wolfgang Pauli 1930 vor, dass beim Beta-Zerfall ein bis dahin unbekanntes, masseloses und elektrisch neutrales Teilchen entsteht, welches die fehlende Energie aufnimmt – ein „kleines Neutron“ also. Der italienische Physiker Enrico Fermi lieferte 1933 ein theoretisches Modell des Vorgangs nach und taufte das Teilchen „Neutrino“.
Es dauerte jedoch bis zum Jahr 1956, bis einem US-amerikanischen Forscherteam ein experimenteller Nachweis der scheuen Teilchen gelang: Endlos lange Messreihen an einem nuklearen Hochleistungsreaktor waren nötig, um in einigen wenigen Fällen zu beobachten, wie Neutrinos auf Protonen prallten und diese in Neutronen umwandelten. Fast vier Jahrzehnte später, im Jahr 1995, verlieh die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften dem Leiter des Teams, Frederick Reines, für diese Forschungsleistung den Nobelpreis für Physik.
Die Neutrinos, die Reines nachwies, waren im Reaktor entstanden. Doch inzwischen suchen Forscher nach Neutrinos, die aus den Tiefen des Alls kommen. Sie könnten den Astrophysikern unter anderem einen Blick in das Innere explodierender Sterne erlauben. Denn so, wie sie den Erdball ungehindert durchqueren, können sie auch die für andere Teilchen undurchdringlichen Gasschichten eines Sterns überwinden und den Forschern Informationen über bislang verborgene physikalische Prozesse liefern.
Um solche Neutrinos einzufangen, scheuen die Forscher kaum Kosten und Mühen. Am Südpol haben sie einen riesigen Detektor aus einer Milliarde Tonnen purem Eis aufgebaut, den „IceCube“: 5160 Lichtsensoren bis zu 2,5 Kilometer tief versenkt ins antarktische Eis. Sechs Jahre dauerte der Bau der Detektoranlage, für die in der Nachbarschaft der Amundsen-Scott-Forschungsstation 86 Bohrlöcher mithilfe von heißem Wasser in das ewige Eis geschmolzen wurden. Bei der Installation der kugelförmigen Lichtverstärker durfte den Forschern kein Fehler unterlaufen: Nach dem Absenken sind die jeweils 33 Zentimeter großen „Digital Optical Modules“ fest in das Eis eingefroren und können weder repariert noch ausgetauscht werden
Das antarktische Eis ist extrem rein – und reines Wasser ist ein idealer Stoff, um Neutrinos mit hoher Energie aufzuspüren. Reagiert ein solches Teilchen, was selten vorkommt, mit einem Wassermolekül, so entstehen elektrisch geladene Teilchen, die nahezu mit Lichtgeschwindigkeit durch das Eis rasen und dabei blaues Licht aussenden, sogenannte Tscherenkow-Strahlung. Nach diesem Licht suchen die Forscher mit IceCube.
Ende des vergangenen Jahres gab das IceCube-Team bekannt, dass sie 28 hochenergetische Neutrinos aus den Tiefen des Alls nachgewiesen hatten. „Das ist der erste Hinweis auf extrem hochenergetische Neutrinos, die von jenseits unseres Sonnensystems kommen“, sagt Francis Halzen, von der Universität von Wisconsin-Madison, Projektleiter von IceCube. Und Markus Ackermann vom Forschungszentrum Desy in Zeuthen bei Berlin jubelte: „Wir erleben damit vielleicht die Geburtsstunde der Neutrino-Astronomie.“
Neutrinos sind so schwer fassbar, so geisterhaft, weil sie nur sehr schwach mit den anderen Bausteinen der Materie in Wechselwirkung treten. Bis zur Entdeckung der Neutrinos kannten die Physiker drei grundlegende Naturkräfte: Die Schwerkraft oder Gravitation regiert das Universum im Großen und hält Galaxien und Planetensysteme zusammen. Die elektromagnetische Wechselwirkung ist für alle elektrischen und magnetischen Phänomen verantwortlich. Sie bindet die negativ geladenen Elektronen an die positiv geladenen Atomkerne und bildet damit zugleich die Grundlage der Chemie. Die starke Wechselwirkung schließlich bindet Protonen und Neutronen aneinander, hält also die Atomkerne zusammen – und spielt damit eine wichtige Rolle bei Kernspaltung und Kernfusion.
Die Reaktionen der Neutrinos mit Neutronen und Protonen lassen sich jedoch mit diesen Kräften nicht beschreiben: Hier ist, wie Enrico Fermi zeigte, eine neue Kraft am Werk, heute „schwache Wechselwirkung“ genannt. Denn im Vergleich zu den anderen Naturkräften wirkt sie nur über extrem kleine Abstände. Deshalb können Neutrinos im Gegensatz zu anderen Elementarteilchen durch ganze Sterne und Planeten hindurchsausen.
Trotzdem sind Neutrinos im Inneren von Sternen wie unserer Sonne von immenser Bedeutung. Vereinfacht gesagt verschmilzt im Sonneninneren permanent Wasserstoff zu Helium. Bei dieser Kernfusion wird jene Energie erzeugt, die unsere Sonne leuchten lässt. Der tatsächliche Vorgang ist allerdings ein wenig komplexer. Gewöhnlicher Wasserstoff enthält in seinem Kern ein einziges Proton, gewöhnliches Helium dagegen zwei Protonen und zwei Neutronen. Im Verlauf des Fusionsprozesses von vier Wasserstoff- zu einem Helium-Atom müssen sich also zwei Protonen in Neutronen verwandeln – und das geht nur mithilfe von Neutrinos, also der schwachen Wechselwirkung. Und nur weil diese Wechselwirkung so schwach ist, wandelt sich nicht der gesamte Wasserstoff explosionsartig in Helium um. Stattdessen läuft ein eher gemächlich brennender Fusionsprozess ab, der unsere Sonnen schon seit 4,5 Milliarden Jahren leuchten lässt.
Für jedes neu entstehende Helium-Atom entstehen in der Sonne also auch zwei Neutrinos. Nach einer Reisezeit von etwa acht Minuten treffen sie auf die Erde: in jeder Sekunde rund 65 Milliarden Neutrinos pro Quadratzentimeter. Doch von 100 Milliarden Neutrinos, die die Erde durchqueren, wird im Durchschnitt nur ein einziges von einem Atomkern eingefangen. Trotz des ungeheuren Teilchenstroms von der Sonne benötigen die Physiker deshalb gewaltige Detektoren und viel Geduld, um die Geisterteilchen nachzuweisen.
Mit einem 1478 Meter tief in der ehemaligen Goldmine „Homestake“ in South Dakota untergebrachten Tank, gefüllt mit 380 000 Litern Perchlorethylen – einer normalerweise für die Reinigung von Kleidung benutzten Chemikalie –, gelang es Raymond Davis vom Brookhaven National Laboratory 1968 erstmalig, von der Sonne kommende Neutrinos nachzuweisen. Doch die Ausbeute des Physikers war spärlich: Gerade einmal 2000 Neutrinos konnte Davis in insgesamt 30 Jahren mit seinem Detektor einfangen.
Der Empfang von Sonnen-Neutrinos lieferte erstmalig einen Blick ins Zentrum der Sonne und erlaubte so, bislang rein theoretische Modelle vom Aufbau des Sonneninneren und der dort ablaufenden physikalischen Prozesse nachzuprüfen. Die Messungen von Davis bestätigten zugleich endgültig, dass im Zentrum der Sonne tatsächlich Wasserstoff zu Helium fusioniert. Und so wurde 2002 zum zweiten Mal ein Physik-Nobelpreis für die Erforschung der Neutrinos verliehen, diesmal an Raymond Davis.
Trotzdem waren die Astrophysiker nicht restlos zufrieden. Die Geisterteilchen verhielten sich nicht so, wie von ihnen erwartet, es waren schlicht zu wenige. Waren nun die Sonnenmodelle falsch? Oder hatten Neutrinos andere Eigenschaften, als bislang angenommen? Die Lösung des Problems macht die Neutrinos nur noch geisterhafter.
Die Physiker haben die Bausteine der Materie und ihre Wechselwirkungen im „Standardmodell“ zusammengefasst. Demnach gibt es allerdings nicht nur eine, sondern drei verschiedene Arten von Neutrinos: neben den „Elektron-Neutrinos“, die bei der Umwandlung von Protonen in Neutronen entstehen, noch „Myon-“ und „Tau-Neutrinos“. Im Jahr 2001 zeigten Messungen am kanadischen Sudbury Neutrino Observatory – 1000 Tonnen reines Wasser in 2000 Metern Tiefe –, dass Neutrinos Verwandlungskünstler sind: Sie können sich von einer Art in eine andere verwandeln. Die in der Sonne entstehenden Elektron-Neutrinos wandeln sich auf ihrer Reise zur Erde teilweise in Myon- und Tau-Neutrinos. Bei den früheren Messungen konnten die Forscher aber nur die Elektron-Neutrinos nachweisen. Daher registrierten sie eine vermeintlich zu geringe Zahl.
Die meisten auf der Erde eintreffenden Neutrinos stammen zwar von unserer Sonne, aber auch andere kosmische Objekte senden die geisterhaften Teilchen aus. Am 23. Februar 1987 leuchtete in der Großen Magellanschen Wolke, einer nahen Galaxie, eine Supernova auf. Zur großen Überraschung der Forscher registrierten vier verschiedene Neutrino-Detektoren zeitgleich mit der Sternexplosion insgesamt 29 Neutrinos. Es sind bis heute die einzigen nachgewiesenen Neutrinos, die sicher von einer Supernova stammen
„Die jetzt mit IceCube nachgewiesenen Neutrinos haben jedoch eine millionenfach höhere Energie“, betont Ackermann. Im April 2012 stieß das IceCube-Team erstmals auf zwei Neutrinos mit extrem hoher Energie. Für sich genommen hätten diese beiden Teilchen, von den Forschern „Ernie“ und „Bert“ getauft, auch durch kosmische Strahlen in der irdischen Atmosphäre entstanden sein können. Doch eine vertiefte Suche in den von Mai 2010 bis Mai 2012 mit IceCube gesammelten Daten zeigte, dass Ernie und Bert nicht allein waren: Die Forscher fanden 26 weitere hochenergetische Neutrinos. Das sind deutlich mehr, als in der Erdatmosphäre entstehen können.
Woher die Neutrinos genau kommen, können die Wissenschaftler noch nicht sagen. Dazu ist die Anzahl bislang zu klein. Mit steigenden Zahlen hofft das IceCube-Team jedoch, einzelne Quellen der Neutrino-Strahlung identifizieren zu können. Auch wenn die Geisterteilchen vorerst rätselhaft bleiben, könnten sie dann helfen, andere kosmische Rätsel zu lösen, etwa was in der Umgebung riesiger schwarzer Löcher passiert.
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