Die Summe der verlorenen Jahre: Forscher messen das Leiden
Krebs, Sepsis, Demenz? Forscher messen, welche Krankheiten besonders schwer wiegen und globale Aktionen lohnen.
In Gesprächen älterer Menschen und in denen von Eltern kleiner Kinder nehmen notgedrungen Krankheiten einen großen Raum ein. Der Blick ist, ebenso notgedrungen, geprägt von Erfahrungen im eigenen Umfeld: Von Scharlach oder Läuse-Alarm in der Kita bei den einen, von Krebs oder Schlaganfällen bei den anderen. Was einen selbst, Angehörige und Freunde akut betrifft, erscheint am wichtigsten.
Wo wiegt die "Krankheitslast" am schwersten?
Ärzten der verschiedenen Fachgebiete geht es oft nicht anders: Krebsspezialisten haben die Zunahme bösartiger Erkrankungen im Blick, Kardiologen warnen auf ihren Kongressen vor der Todesursache Nummer eins, den Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Alle mahnen, für die Vorsorge und die Behandlung „ihrer“ Leiden müsse mehr getan werden. Jeder für sich mit gutem Grund.
Doch in welchen Bereichen bringen Anstrengungen zur Verbesserung von Lebensstil, Früherkennung und Behandlung wirklich am meisten, und zwar für die gesamte Bevölkerung? Das versucht seit Ende der 80er Jahre eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des US-Instituts für Gesundheits-Messung und Evaluation (Institute for Health Metrics and Evaluation, IHME) herauszufinden. Die Gesundheitsforscher ziehen dafür das Konzept der „Krankheitslast“ („Burden of Disease“) heran.
Sie rechnen bewusst nüchtern und sachlich mit Größen, hinter denen sich teilweise unermessliches persönliches Leid verbirgt. Es geht in ihren Kalkulationen um die Jahre, die Menschen durch ihre tödliche Krankheit verlieren, und um die Jahre, die sie krankheitshalber mit Einschränkungen leben müssen. Diese „Years of Life Lost due to premature death“ (YLLs) und „Years Lived with Disability“ (YLDs) werden addiert zu „Disability Adjusted Life Years“ (DALYs). Und diese DALYs ermöglichen es, einzelne Krankheiten, aber auch Risikofaktoren in ihrer Bedeutung für die Gesundheit der gesamten Bevölkerung zu vergleichen. Berechnungen der Krankheitslast sollen abschätzbar machen, in welchen Bereichen Präventionsmaßnahmen, Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik den größten Nutzen für die Lebensqualität und die Gesundheit der Bevölkerung erwarten lassen. Im zeitlichen Verlauf lässt sich zudem zeigen, wo Maßnahmen tatsächlich die erhoffte Wirkung zeigten und wo nicht.
Ein "Präsident der Welt" sollte die Gesundheitsfolgen von Ernährung und Klimawandel erforschen lassen
Beim ersten von sechs Vortragabenden des Kolloquiums „Burden of Disease“, das das Robert-Koch-Institut zu diesem Thema in diesem Sommersemester veranstaltet, sprach vergangene Woche der US-Mediziner und Gesundheitswissenschaftler Christopher Murray, der das IHME leitet. Zu den wichtigsten Beobachtungen aus globaler Perspektive gehört: Ansteckende Krankheiten, die Neugeborene und Kleinkinder bedrohen, haben weltweit ebenso abgenommen wie die Sterblichkeit der Mütter bei der Geburt. Der Tod ereilt die Menschen heute überwiegend mit über 65 Jahren, nicht mehr in den ersten fünf Lebensjahren. Nicht ansteckende Krankheiten haben an Bedeutung gewonnen.
Im Konzept der Krankheitslast werden zudem inzwischen die YLDs wichtiger, also die durch Krankheit(en) getrübten Lebensjahre, die Menschen mit Einschränkungen zubringen. „Was dich kränkeln lässt, ist nicht das, was dich umbringt“, fasste Murray zusammen. Beispiele dafür sind neurologische Erkrankungen wie Parkinson und Demenz, aber auch Depressionen oder Schmerzen und Bewegungseinschränkungen durch Krankheiten, die Muskeln und Gelenke befallen.
Unter den 20 führenden beeinflussbaren Risikofaktoren für wichtige Volksleiden nehmen, wenig überraschend, hoher Blutdruck und starkes Übergewicht führende Positionen ein. „Und Übergewicht gewinnt weltweit weiter an Bedeutung.“ Am klarsten sei die Verbindung zwischen einer Erkrankung und einem bestimmten Verhalten aber nach wie vor beim Zigarettenrauchen und dem Lungenkrebs, betonte Murray. „Die Wahrscheinlichkeit, dass das Rauchen keinen Effekt hat, liegt hier bei null.“ Wäre er „Präsident der Welt“, so antwortete Murray auf eine Frage aus dem Publikum, dann würde er besonders die Forschung zu Auswirkungen von Ernährung und Klima auf die Gesundheit der Menschen fördern. Messbar wäre das wiederum mit dem Konzept der Krankheitslast.
Bedeutung von Altersdiabetes wird unterschätzt
„Das Konzept der DALYs ist eine Diskussionsgrundlage, auf die sich alle einigen können“, urteilt Thomas Ziese, der am RKI zusammen mit Alexander Rommel das vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) geförderte Forschungsprojekt „Burden 2020“ leitet. Das Großprojekt, an dem das wissenschaftliche Institut der AOK und das Umweltbundesamt (UBA) beteiligt sind und das Teil des „European Burden of Disease Network“ (EBoDN) ist, soll für Deutschland eine zuverlässige Datenquelle bilden, um die Krankheitslast umfassend abzubilden.
Zwar gibt dazu schon eine solide Basis, die auf Daten von Umfragen des RKI beruht. „Doch die Datenlage ist derzeit auf Bundesebene besser, und wir haben uns entschieden, das auf die Bundesländer herunterzubrechen.“ Als Flaggschiff bezeichnet Ziese die Datensammlung zum „Alters“-Diabetes vom Typ 2. „Betrachtet man nur die Statistik der Todesursachen, so wird die Bedeutung dieser Krankheit massiv unterschätzt“. Denn Menschen sterben an Krankheiten, die die Folge eines ungenügend behandelten Diabetes sind. Erst eine Kombination von Krankheitslast und Häufigkeit der Erkrankung liefert Aufschlüsse über die Wucht, mit der eine Krankheit eine Region oder ein ganzes Land trifft. „Ein solches Beobachtungssystem wollen wir systematisch für alle wichtigen Krankheiten einrichten“, berichtet Ziese.
Schon vorhandene Daten des RKI-Gesundheits-Monitorings, denen teilweise auch Messungen zugrunde liegen, werden dabei unter anderem durch Routinedaten der AOK, Umweltdaten des UBA, die Todesursachenstatistik und bevölkerungsrepräsentative Befragungen ergänzt. Für eine Pilotstudie wurden zunächst 19 Krankheiten ausgewählt, von denen sich in der globalen Burden-of-Disease-Studie herausgestellt hat, dass sie in Sachen DALYs an der Spitze stehen: Darunter Herzinfarkte und Erkrankungen der Herzkranzgefäße, Rückenschmerzen, Krebs an Lunge, Darm, Brust und Prostata, Schlaganfälle, die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD), Demenzen, Diabetes, Kopfschmerzen, Stürze, Nackenschmerzen, Depressionen, Angststörungen, alkoholbedingte Erkrankungen, Lungenentzündungen, aber auch Verkehrsunfälle. Eine Liste von Krankheiten und Schicksalsschlägen, die auch privat immer wieder zum Thema werden.