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Studiierende im Hörsaal
© dpa

Position: Es gibt keine „Überakademisierung“

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Oliver Kaczmarek meint, dass mehr Abiturienten im dualen System nur andere Schulabsolventen verdrängen würden.

Es sind vor allem zwei Entwicklungen, die derzeit die Debatte um eine vermeintlich drohende Überakademisierung in Deutschland schüren. Auf der einen Seite haben noch nie so viele junge Menschen ein Studium aufgenommen wie heute. Im Jahr 2012 lag die Studienanfängerquote nach der aktuellen OECD-Studie bei 53 Prozent. Auf der anderen Seite bleiben immer mehr Ausbildungsstellen unbesetzt. Nach der aktuellen Erhebung der DIHK waren dies 2013 bundesweit etwa 80 000 Plätze.

Doch daraus nun die Schlussfolgerung zu ziehen, dass wir weniger Studierende brauchen, um mehr Auszubildende zu bekommen, greift zu kurz. Insbesondere zwei Aspekte werden in der Debatte zu wenig berücksichtigt: Zum einen weist unser Bildungssystem nach wie vor eine sehr hohe soziale Selektivität auf. Während gut drei Viertel der Akademikerkinder einen Hochschulzugang haben, gilt dies bei Nichtakademikerkindern nur für ein knappes Viertel. Deutschland hat kein Problem mit zu vielen Studierenden, sondern ein Problem damit, Talente unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zu erkennen und zu fördern. Die steigenden Studierendenzahlen stehen zunächst für das Nachholen einer Entwicklung, in der uns die anderen Industrienationen schon lange voraus sind. Die Studienanfängerquote der OECD-Länder lag 2012 im Durchschnitt bei 58 Prozent.

Oliver Kaczmarek, stellvertretender bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag
Oliver Kaczmarek, stellvertretender bildungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag
© Oliver Kaczmarek

Zum anderen ist das duale System der Berufsausbildung auch heute ein Prunkstück des deutschen Bildungssystems. Wir dürfen jedoch nicht die Augen davor verschließen, dass es seiner gesellschaftlichen Integrationsfunktion insbesondere in einigen Regionen nicht gerecht wird. Immer mehr Schülern mit mittlerem und Hauptschulabschluss bleibt der Zugang zum dualen System verschlossen. Im Ausbildungsjahr 2013 blieben in Nordrhein-Westfalen 6300 junge Menschen ohne Ausbildungsplatz und weitere 18 000 befanden sich in den so genannten Warteschleifen. Besonders drastisch war die Lage im Ruhrgebiet, wo auf einen Bewerber nur 0,6 Ausbildungsplätze kamen. Es muss für die Betroffenen fast wie Hohn klingen, wenn sie hören, dass die duale Ausbildung für junge Menschen wieder attraktiver gemacht werden müsse.

Man benötigt keine lebhafte Fantasie, um sich vorzustellen, was folgt, wenn mehr Abiturienten in das duale System geleitet werden: Es wird weitere Verdrängungseffekte geben. Schüler mit mittlerem oder Hauptschulabschluss würden in ihren Entwicklungsmöglichkeiten noch weiter beschränkt.

Das ehrgeizige Ziel einer Ausbildungsgarantie

Wir müssen deswegen nicht darüber reden, wie wir junge Menschen von unseren Universitäten fernhalten, sondern darüber, wie es gelingen kann, allen jungen Menschen einen Ausbildungsplatz anzubieten. Die große Koalition hat sich deshalb das ehrgeizige Ziel einer Ausbildungsgarantie gesetzt. Notwendig ist ein Bündel von Maßnahmen, das die Schaffung zusätzlicher betrieblicher Ausbildungsplätze in den besonders belasteten Regionen, aber auch qualitative Aspekte in den Blick nimmt: Junge Menschen müssen mehr darüber wissen, welche Möglichkeiten das duale System bietet und welcher Beruf zu ihren Talenten passt. Die Berufsorientierung muss intensiviert werden und in allen Schulformen Platz finden.

Nicht zuletzt darf man die Augen auch vor der in einigen Bundesländern erschreckend hohen Zahl von Schulabgängern ohne Abschluss nicht verschließen. Bei den Pisa-Untersuchungen zeigt sich zwar erfreulicherweise ein Aufholen deutscher Spitzenschüler im internationalen Vergleich, zugleich bleibt am anderen Ende der Leistungsskala aber auch eine nur langsam schrumpfende Risikogruppe junger Menschen. Hier besteht die Gefahr, dass sie langfristig den Anschluss an Ausbildung und Arbeit verlieren.

Hinter der Debatte steckt mehr als Sorge um Fachkräftemangel

Die Debatte wirft aber auch noch eine andere Frage auf: Wenn Wirtschaftsvertreter, Professoren oder Politiker, für deren Kinder der Hochschulbesuch offenbar selbstverständlich ist, die Angst vor der Überakademisierung hoch hängen, um wen geht es ihnen dann? Sind es nicht vor allem die Kinder der anderen? Dann verbirgt sich weit mehr hinter der Debatte als die Sorge um den Fachkräftemangel.

Der Autor ist stellvertretender bildungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion im Bundestag.

Oliver Kaczmarek

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